Mannheim/Schwetzingen. Es ist ein herrlicher Frühsommermorgen als eine junge Frau mit ihrem Hund im Dossenwald Gassi geht, die Stille und das Sonnenlicht genießt, das zwischen den Laubkronen durchblitzt. Der junge Mischling folgt ihr aufs Wort. „Ich kann mich auf ihn 100 Prozent verlassen“, versichert die Rheinauerin. Dennoch hat sie den Rüden angeleint: „Weil jetzt so viele Tiere Nachwuchs haben.“ Sie will auf keinen Fall, dass ihr neugierig schnuppernder Wolfsnachfahre ein Jungtier oder seine Mutter aufscheucht. Plötzlich bleiben Hund und Halterin wie angewurzelt stehen. Aus dem dichten Gestrüpp hören sie Schreie. „Fast wie von einem Kind“, erinnert sich die Hundehalterin mit Schrecken.
Auch andere Spaziergänger sind irritiert von den durchdringenden Lauten. Die junge Frau bittet einen Passanten, ihren Hund zu halten. Sie will den klagenden Tönen auf den Grund gehen. Und sie entdeckt im Gebüsch ein Rehkitz: „Es hat an den Hinterläufen stark aus offenen Wunden geblutet.“ Ohne lange zu überlegen wickelt sie das Junge in ein Tuch, legt es auf den Rücksitz und fährt zu einem ihr bekannten Jäger: „Ich dachte, vielleicht kann er das Kleine noch irgendwie retten.“ Doch als es der Waidmann untersuchen will, ist es bereits tot. „Von einem oder mehreren Hunden gerissen“, stellt der Friedrichsfelder fest, der seinen Namen nicht nennen möchte, weil er die verbalen Angriffe „von so manchem Hundebesitzer“ fürchtet. „Einige von ihnen sind einfach unverbesserlich. Das hat mit Tierliebe absolut nichts mehr zu tun.“
Er habe im Rheinauer Wald erlebt, so beklagt der Kurpfälzer, dass ein frei laufender Husky ein erwachsenes Muttertier so lange gejagt hat, bis es völlig in Panik geriet: „Wie von Sinnen ist es in der Nähe des Umspannwerks in einen Zaun gerannt.“ Der Halter habe zwar versucht seinen Hund zu rufen und aufzuhalten. Doch der setzte der Ricke unbeirrt nach und biss ihr in die Kehle. „Das Reh hat furchtbar gelitten, weil es nicht sofort tot war“, erinnert sich der Jäger: „Aber ich habe immer mein Messer dabei und habe es dann vom Leiden erlöst.“
Als Hundehalter ungeeignet
Doch dies sei nicht die einzige empörende Begegnung mit rücksichtslosen Hundebesitzern. Im Dossenwald habe er einen Rottweiler beobachtet, der vor den Wildschwein- und Auerochsen-Gehegen laut bellend am Zaun hochsprang und die Tiere verängstigte. Der Halter habe nicht etwa versucht, sein Tier zu bändigen, sondern er habe es sogar noch animiert weiter zu bellen. Spaziergänger alarmierten daraufhin zurecht die Polizei. Erst ein bewaffneter Polizist konnte den Besitzer davon überzeugen, den Rottweiler anzuleinen.
„Ja, solche Menschen gibt es,“ stellt Mannheims Naturschutzbeauftragter Gerhard Rietschel fest, der selbst immer wieder Hunde gehalten hat: „Aber solch ein Verhalten ist einfach rücksichtslos.“ Und er plädiert dafür, von Mitte April bis Ende Juli den Vierbeiner im Wald und auf weiter Flur grundsätzlich anzuleinen: „Schließlich ist der Hund kein Wildtier, sondern gehört zum menschlichen Rudel. Und da ist der Mensch der Chef, der das Sagen hat.“
Da kann der Jäger nur zustimmen. „Ja, für derart verantwortungslose Halter fehlt mir jegliches Verständnis“, konstatiert er kopfschüttelnd. Dabei hat er selbst zwei Vierbeiner, einen Jagdhund und einen Terriermix. Und auch er würde behaupten, dass die zwei aufs Wort gehorchen: „Aber im Moment sollte man sein Tier lieber ein Mal unnötig oder übervorsichtig an die Leine nehmen, als ein Mal zu spät.“ Schließlich ist jetzt gerade die Zeit, in der die Muttertiere ihre Jungen zur Welt bringen und im Feld, Gras oder extra besonders gut getarnt im Dickicht ablegen, um sie zu schützen. Leider flüchten die Kitze nicht etwa, wenn sie von einem Hund aufgestöbert werden, sondern bleiben wie angewurzelt liegen. Denn Rehkitze sind sogenannte Ablegetypen, das heißt, sie folgen der Ricke erst nach Tagen und haben vorher auch keinen Fluchtinstinkt. „Bis ein Kitz aufsteht und läuft, dauert es – je nach Konstitution und Umgebung – ein bis vier Wochen“, versichert der Friedrichsfelder.
Rücksicht lautet das Zauberwort, zu der auch die Stadt auf ihrer Homepage zum Thema Stadtwald und Leinenpflicht rät: „Nehmen Sie Ihren Hund bitte an die Leine, wenn Sie ein Wildtier sehen, oder Ihnen andere Waldbesucher – vor allem Kinder – begegnen.“
Aber woher kann der Jäger so genau wissen, dass das Kitz nicht von einem Fuchs gerissen wurde? „Der greift immer von vorne an der Kehle an.“ Das macht zwar auch so mancher Hund, aber Verletzungen an den Hinterläufen können nicht von einem Fuchs stammen: „Und Wölfe haben wir rund um Mannheim bisher keine.“
Wenn man beim Spaziergang ein Kitz entdeckt, das offensichtlich gesund ist? „Dann sollten Sie es erst mal einfach liegenlassen“, betont der Waidmann: „Die Mutter kommt schon wieder.“ Niemals, warnt er, sollte man es mit den Händen berühren. Das gilt auch für Landwirte, die in der Regel ihre Felder vor den Mäharbeiten nach Jungtieren absuchen, sie bergen und an einen sicheren Ort umsetzen: „Wenn Sie keine Handschuhe dabei haben, dann kann man sich mit Grasbüscheln behelfen. Auf jeden Fall den direkten Körperkontakt vermeiden, da das Kitz sonst von der Ricke nicht erkannt oder sogar abgestoßen werden kann.“ Transportkisten aus Holz oder Pappe, zur Not gehe auch ein Wäschekorb, müsse man mit frischem Gras auslegen und das Kitz in sicherer Entfernung im Schatten ablegen. Um absolut sicher zu gehen, dass die spätere Familienzusammenführung klappe, könne sie aus angemessener Distanz beobachtet werden.
Und die junge Frau, die das schwer verletzte Rehkitz gefunden hat? „Oh je, die war fix und fertig“, erzählt der Waidmann. Sie habe immer wieder gesagt, wie es ihr wehtue, dass ein Tier unter so großen Schmerzen verenden muss. Auch den Jäger hat die Geschichte mitgenommen: „Das trifft einen schon.“
Seine Frau teilt nicht nur die Leidenschaft zur Jagd, sondern auch sein Mitgefühl mit dem neugeborenen Wesen: „Wissen Sie, wenn alle nur etwas vernünftiger wären, dann müsste solch eine traurige Geschichte nicht passieren.“
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Leinenpflicht ist zumutbare und gerechtfertigte Einschränkung