Das Wichtigste in Kürze
Der Tanz erobert die Schwetzinger SWR Festspiele: Friedemann Vogel zeigt seine eindrucksvolle Performance „Die Seele am Faden“.
Schwetzingen. „Die Grazie erscheint am reinsten in dem menschlichen Körper da, wo er am wenigsten von Bewusstsein durchdrungen ist.“ So lautet eines der Zitate aus dem Essay „Über das Marionettentheater“ (1810) von Heinrich von Kleist, auf dem die gedankliche Grundlage der Tanzperformance „Die Seele am Faden“ basiert. Entwickelt wurde das abendfüllende Werk 2024 vom vielfach preisgekrönten Weltstar der internationalen Tanzszene, Friedemann Vogel, gemeinsam mit dem Choreografen und bildenden Künstler Thomas Lempert. Nach der Uraufführung im Kleist-Forum in Frankfurt an der Oder und einer Aufführung beim Festival in der Schwetzinger Partnerstadt Spoleto war es nun bei den Schwetzinger SWR Festspielen zu erleben.
Am Dienstag- und Mittwochabend stand der 44-jährige Ausnahmetänzer im Rampenlicht des ausverkauften Rokokotheaters und füllte die Bühne mit seiner Präsenz. 500 Augenpaare folgten gebannt jeder seiner Bewegungen. Während man ihm dabei zuschaute, drängte sich die Frage auf, ob denn nun die leblose Puppe oder Friedemann Vogel selbst der vollkommenere Tänzer sei.
Heinrich von Kleist stellte in seinem Text, den er in den „Berliner Abendblättern“ veröffentlicht hatte, die These auf, dass der Mensch, je mehr er sich bemüht, graziös zu sein, umso ungeschickter wird. Anmut, so Kleist, entsteht nicht durch Willensanstrengung, sondern durch natürliche Unschuld – wie sie etwa ein Kind, ein Tier oder eben eine Marionette besitzt.
Die Marionette als Symbol von Ego und Selbstzweifel
Bei Kleist ist die Marionette kein Spielzeug, sie wird zum Symbol für eine Existenz jenseits von Ego und Selbstzweifel. Sie kennt keine Scham, kein Stolpern, keine falsche Pose. Deshalb kommt sie dem Perfekten näher als der Mensch. Zu Kleists Zeiten galt das Marionettentheater minderwertig, daher war er bemüht, es aufzuwerten. Provokativ behauptet er, dass Marionetten menschlichen Tänzern überlegen seien. Sie können sich über die Schwerkraft hinwegsetzen, da sie an den Fäden hingen.
Wie ging nun Friedemann Vogel und Thomas Lempertz mit der Vorlage um? Ihre Tanzperformance zeigte auf, dass gerade im Tanz – einer hochdisziplinierten Kunstform – wahre Schönheit nicht durch Perfektion entsteht, sondern durch Authentizität und Verletzlichkeit. Tänzer wie Friedemann Vogel sind nicht glatt, sondern widersprüchlich, und gerade das berührt.
Sein Körper wird zum Medium seiner Seele. Damit entspricht er nicht dem Ideal, das Kleist beschreibt, sondern zeigt auf, dass er über das Spannungsverhältnis von Bewusstsein und Unschuld, von Kunst und Natürlichkeit reflektiert und das in einer Zeit, in der viele Menschen sich selbst inszenieren. Seine Botschaft ist somit aktueller denn je und im Kontext des zeitgenössischen Tanzes überraschend modern. Natürlich kann man Kleists Text unterschiedlich interpretieren. Und „Die Seele am Faden“ lässt das Ganze am Ende bewusst offen, um dem Publikum Raum für eigene Gedanken mitzugeben.
Von einer großen Leichtigkeit einer Wolke getragen
In manchen Momenten schien Vogel wie aus Stein gemeißelt und gleichzeitig von einer Leichtigkeit getragen, als hinge er am Faden einer Wolke. Dieser Eindruck wurde auch durch die Musik erhärtet – durch Musikerin Alisa Scetinina und Digital-Artist Timo Kreitz – die wie eine atmende Klangfläche wirkte, mit der der Tänzer verschmolz. Und das schlichte Bühnenbild, durchzogen von flirrenden Lichtstreifen (Henry Winter), bot Raum für jede Nuance seiner Bewegungen, mal zögernd, mal abrupt, mal schwebend – die zwischen Hoffnung und Resignation oszillierten.
Der Gurt, an dem er zeitweise hing, stand für die Fäden der Marionette, die zwar die Illusion vom Fliegen vermittelte, gleichzeitig aber Einschränkung. Tanzen ist für Friedemann eine Form von Kommunikation, sein Körper Instrument der Seele, die Stimmungen wie Licht und Schatten, Leere und Stille Ausdruck verlieh. Und er zeigt, wie jede seiner Handbewegung, jede Drehung, jeder Blick sowie die Virtuosität der Schrittkombination die eigene Lebenserfahrung aufnimmt und sie weitergibt.
Das Tanzsolo Friedemann Vogels ist somit ein poetisches Bild für das Ausgesetztsein des Menschen, für seine Verletzlichkeit, gleichzeitig auch für seine Verbundenheit mit etwas Höherem, Unsagbarem. Eine Marionette kann das nicht: Sie kann Schönheit darstellen, reine Ästhetik – vielleicht technisch perfekt, das aber wenig mit Kunst zu tun hat. Empathie wecken und Grenzen überschreiten kann nur ein Mensch mit einer Seele, mit Bewusstsein und Verstand. Kleists Behauptung, dass wahre Anmut nur bei der Marionette möglich sei, weil sie keinen Verstand hat, die Bewegungen zu kontrollieren und tänzerisch zu hinterfragen, widerspricht Vogel mit seiner Tanzperformance. Seine Bewegungen und innere Bewegtheit stellte er bewusst dar, durchdrungen von Gefühl und Reflexion – genau damit erreichte er die Zuschauer emotional. Denn der Tanz wurde bei Vogel zur Seelenlandschaft, und genau darin lag seine Kraft.
Die Performance „Die Seele am Faden“, gleichzeitig ein Herzensprojekt des Künstlers, von solch berückender Schönheit, hat das Publikum im Schwetzinger Rokokotheater so tief berührt, dass der stehende Applaus des Publikums kein Ende nehmen wollte.
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