Serie "Von Recht & Gesellschaft"

Terrorschutz: Grenzen schließen? Das sagt Richter Alessandro Bellardita aus Schwetzingen

Im zweiten Teil der Serie „Von Recht & Gesellschaft“ spricht der Richter Dr. Alessandro Bellardita über einen weltweiten, politisch hoch umstrittenen Trend. Die Forderung nach geschlossenen Grenzen.

Von 
Noah Eschwey
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Grenzen schließen und sprichwörtlich eine Mauer hochziehen? Das sagt der Schwetzinger Richter Alessandro Bellardita. © SZ

Schwetzingen. Der Ton in der gesellschaftlichen Debatte wird rauer. Altkanzlerin Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“, wurde zum Spiegel-Cover mit einem Zitat vom nun amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz, der fordert: „Abschieben im großen Stil.“ Deutschland sei auf dem Themengebiet Einwanderung und Integration gescheitert, sagen viele. Andere wollen ein „deutsches Deutschland“, ohne jegliche Einwanderung. Wieder andere möchten spätestens nach dem grausamen Terroranschlag in Solingen alle Außengrenzen zur Europäischen Union schließen. Doch was bedeutet diese immer prominenter werdende Forderung nach undurchdringbaren Ländergrenzen in letzter Konsequenz?

Dazu machte sich auch Jurist Dr. Alessandro Bellardita, unter anderem Lehrbeauftragter der Hochschule für Recht in Schwetzingen, Gedanken – und kommt zu überraschenden Ergebnissen. Nicht nur Rechtsphilosophen interessieren sich für das Thema des zweiten Teils der Serie „Von Recht & Gesellschaft“ mit Dr. Alessandro Bellarditas in dieser Zeitung. Viel mehr stammt der europaweite, fast schon weltweite Wunsch nach Mauern aus vielen verschiedenen Ecken der Gesellschaft. Eine paradoxe Entwicklung, findet der Richter des Landgerichts. Immerhin profitiere die Republik immer dann, wenn Grenzen durchlässiger werden. Genau deswegen habe er sich dafür entschieden, dieser Entwicklung den zweiten Teil dieser Serie zu widmen – unter dem Titel: „Die Versuchung der Mauer“, möchte Bellardita dem Phänomen auf den Grund gehen.

Schwetzinger Richter: Fast niemand möchte vom System der durchlässigen Grenzen weg

Im Prinzip sei schon der Titel „Die Versuchung der Mauer“ eine konträre Anspielung auf die eigentliche Funktion von Grenzen, beginnt der Richter am Telefon, er urlaubt in Sizilien. „Wenn wir an Grenzen denken, dann haben wir meist durchlässige Grenzen vor Augen. So, wie eben auch die Ländergrenzen in der Europäischen Union durchlässig sind.“ Gerade im angesprochenen Bündnis sei das mittlerweile gang und gebe: „Von dem System möchte auch so gut wie keiner mehr von weg.“

Beides nebeneinander – eine Mauer, die Einwanderer von Deutschland fernhält bei gleichzeitig innereuropäisch offenen Grenzen – könne es nicht geben. Trotz dieser logisch herleitbaren Schlussfolgerung würden Menschen der politischen Forderung nach geschlossenen Grenzen folgen. „Das ist die Versuchung, der immer mehr Menschen erliegen.“

Bellardita nennt es Versuchung – den Wunsch nach einer einfachen Lösung für komplexe Probleme. Die Begründung, weswegen diese Forderung gerade in Deutschland im Raum stehe, sei etwas paradox: „Es geht darum, Einwanderung in die Bundesrepublik zu verhindern. Allerdings besteht auch ein gesetzlicher Grundsatz, dass das illegale Betreten des Bundesgebiets ohnehin strafbar ist.“ Festgehalten sei das in Paragraf 95 des Aufenthaltsgesetzes: „Die Strafbarkeit besteht seit Gründung der Republik.“

Schwetzinger Richter zieht Beispiel aus dem Jahr des deutschen Nato-Beitritts heran

Für Bellardita paradox an der Sache: „Immer wenn der Bundesrepublik etwas mehr Souveränität zugestanden wurde, nutzten wir diese, um unsere Grenzen durchlässiger zu machen.“ Ein erstes Beispiel für die These sei das Anwerbe-Abkommen mit Italien gewesen: „Die Bundesrepublik wurde im Jahr des Nato-Beitritts 1955 wieder ein Stück weit souveräner und nutzte es direkt, um Menschen nach Deutschland zu holen.“

Das Abkommen sei allerdings nur ein kleiner Teil, der daraus entstandenen Idee: „Das war faktisch der erste Schritt zur europaweiten Reisefreiheit.“ Dass ein Ausländer im fremden Land bleibe, sei bis dato undenkbar gewesen: „Also beschränkte man das Aufenthaltsrecht der Italiener auf zwei Jahre. Das war den Unternehmern in Westdeutschland aber zu kurz, also wurden es vier. Später kam es dann zur dauerhaften Aufenthaltserlaubnis.“ Bezeichnend, findet der Jurist, der weiß, was daraus folgte: „Die Durchlässigkeit der Grenzen ist der Beginn des Wirtschaftswunders gewesen.“

Den entscheidenden Knackpunkt würden die Verfechter der Mauern nämlich gerne ausblenden: „Da wird schnell mal vergessen, dass mehr Menschen immer auch ein Wachstum der Volkswirtschaft bedeuten. Und damit auch eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts. Diese Zusammenhänge sind kein Zufall.“ Nicht nur das sei kein Zufall: Auch, dass Deutschland mit nahezu jedem Land, aus dem „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik kamen, heute überdurchschnittlich gute Handelsbeziehungen pflege, entstamme aus der Zusammenarbeit: „So wurden wir Exportweltmeister. Durch den Handel mit der Türkei, den Griechen, Italienern, Polen und vielen mehr“, weiß Bellardita.

Herztransplantation als Allergorie für gelungene Integration

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy habe mal ein spannendes Bild zu gelungener Integration gezeichnet, sagt Bellardita: „Er litt unter einer Herzinsuffizienz und brauchte eine Transplantation. Als er dann für die französische Zeitschrift Dedalo 1999 einen Aufsatz zu Vorurteilen gegenüber arabisch stämmigen Menschen schrieb, verglich er seine Transplantation mit der Integration.“ So habe der Philosoph gemerkt, dass er einen Fremdkörper in sich trage, den er nicht kontrollieren könne: „Eher im Gegenteil, wenn er sich zu sehr auf das Spenderherz konzentrierte, verfiel er sogar in Panik.“ Der spannende Gedanke des Franzosen: Das Herz ist in ihm, aber weiter fremd. Und trotzdem ist sein Überleben selbst abhängig vom fremden Organ. „Nach einer Transplantation musste sogar das Immunsystem heruntergefahren werden, damit es das Herz nicht abstößt.“

Ungefähr so funktioniere Integration: „Wir haben einen Fremdkörper in uns und müssen, um ihn nicht abzustoßen, unser Immunsystem herunterfahren, um Interaktion zu ermöglichen.“ Auch, was das Immunsystem in dieser Metapher sei, ist klar: Der strenge Blick, Vorurteile und Ausgrenzung, die Bellardita zunehmend beobachtet.

Doch selbst, wenn die Gesellschaft das metaphorische Immunsystem herunterfährt, wie wird Interaktion ermöglicht? „Man muss Begegnungsorte schaffen“, ist sich der Jurist sicher. So hätten die italienischen Einwanderer den Vorteil gehabt, in Restaurants und Eisdielen mit Deutschen in den Austausch zu kommen: „Die italienische Küche hat sich eingedeutscht. Weil Deutsche und Italiener so in Kontakt kamen, würden heute wohl die meisten Personen sagen, dass die Italiener beispielsweise deutlich besser integriert sind als Türken.“

Schwetzinger Richter warnt vor Trugschlüssen bei der Bewertung von Integration

Ein Trugschluss, wie der Landgerichtsrichter begründen kann: „In Gymnasien sind italienischstämmige Schüler deutlich unterrepräsentiert. Auch in politischen Gremien. Bei türkischstämmigen Mitbürgern ist das anders.“ Eines von vielen Anzeichen, dass türkischstämmige eigentlich besser integriert seien als die Italiener: „Objektiv betrachtet, sind Italiener sogar richtig schlecht integriert. In der deutschen Wahrnehmung ist das aber ganz anders.“

Doch was sagt uns das? „Es geht nicht um Integration, sondern um soziale Begegnungen.“ So sei der Unterschied zwischen dem Döner und dem italienischen Restaurant ein zeitlich bedingter: „Döner soll schnell gehen, rein und wieder raus. Beim Italiener sitzt man, unterhält sich, schnappt etwas auf, am Ende gibt es sogar einen Amaro aufs Haus dazu. Insgesamt ist die Begegnung intensiver und länger. Deswegen kennen nahezu alle Deutschen Begriffe wie ,grazie‘, ,prego‘, ,arrivederci‘. Aber türkische Wörter? Fehlanzeige.“

Das Kuriose an der Sache sei, dass die italienischen Restaurants mittlerweile sogar ihre Namen an den deutschen Sprachgebrauch angepasst hätten: „Etwas wie ,Da Francesco‘ oder ,Da Gino‘ – was so viel wie ,Bei Francesco‘ oder ,Bei Gino‘ bedeutet – ist Folge der Begegnung und des Austausches. Die Menschen gehen nicht nur zum Italiener, sie wissen sogar, wie er heißt. Nur dadurch hat es sich entwickelt, dass hierzulande die Namen der Restaurantbesitzer im Titel des Restaurants stehen.“

Schwetzinger Richter: "Wir brauchen das Fremde in unserer Mitte wie ein Spenderherz"

Zurück zum eigentlichen Thema: „Wir müssen akzeptieren, dass das Fremde nicht nur zu uns gehört, sondern uns sogar vital macht. Wir brauchen das Fremde in unserer Mitte wie ein Spenderherz.“

Genau deswegen sei Bellardita dieser Text derart wichtig: „Es ist ein Appell für Akzeptanz und gegenseitiges Kennenlernen.“ Zurzeit nehme er allerdings Gegenteiliges wahr: „Überall gibt es die Versuchung der Mauer. Besonders aus deutscher Sicht ist das absurd. Immerhin hatten wir eine solche in der DDR, sogar mit Schießbefehl.“ Dies habe dazu geführt, dass innerhalb dieser undurchlässigen Grenzen eine statische Gesellschaft ohne Entwicklung reifte. „Am Ende verlieren alle, die Mauern bauen. Das schadet auch der Beziehung zu anderen Ländern.“

Info: Teil eins erschien am 16. August, Teil drei folgt in den nächsten Tagen.

Volontariat Noah Eschwey ist Volontär in der Lokalredaktion der Schwetzinger Zeitung/Hockenheimer Tageszeitung.

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