Serie "Von Recht & Gesellschaft"

Schuldfähig ab 12 Jahren? Das sagt Richter Alessandro Bellardita aus Schwetzingen

Im ersten Teil der Serie „Von Recht & Gesellschaft“ spricht Dr. Alessandro Bellardita - Richter, Buchautor und Lehrbeauftragter - über die Forderung, das Alter zur Schuldfähigkeit auf zwölf Jahre zu senken.

Von 
Noah Eschwey
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Beim letzten Jugendgerichtstag debattierten Experten über junge Straftäter. © dpa/Friso Gentsch

Schwetzingen. Dass Dr. Alessandro Bellardita gerade Urlaub auf Sizilien macht, hält ihn nur oberflächlich von der Arbeit ab. Zwar ist die Richterrobe des Juristen zu Hause geblieben, das ist aber bei Weitem nicht der einzige Job des weit über die Grenzen von Schwetzingen hinaus bekannten Richters am Landgericht. Der Lehrbeauftragte der Hochschule für Recht in Schwetzingen, Referent zahlreicher Vorträge und Buchautor einer Krimireihe lebt für die Aufklärung. Und er möchte trotzdem über die Themen diskutieren, die ihn beschäftigen. Wenn auch nur übers Handy mit uns – gerade aus dem Flieger gestiegen, nun im Hotelzimmer.

Komplexe Sachverhalte rund um Recht und Gesellschaft aufklären

„Von Recht & Gesellschaft“ – unter diesem Serientitel möchte der Rechtswissenschaftler über komplexe Sachverhalte aufklären. Besonders diejenigen, die oft nur unterschwellig beleuchtet werden. Juristische Expertise, philosophisches Fachwissen und realpolitische Meinungen bis hin zu Forderungen – aber immer ruhig und bedacht: So kennen viele den aufstrebenden Publizisten. Und das stellt er immer wieder mit einer beeindruckenden Präzision in seinen Worten zur Schau.

Man kann schon fast die Uhr danach stellen: Wenn Kinder unter 14 Jahren eine Straftat begehen, dauert es ein bis maximal zwei Stunden und nahezu jedes soziale Netzwerk ächzt unter der Forderung: „Die Altersgrenze zur Strafmündigkeit muss auf zwölf Jahre sinken.“ Eine prominente Unterstützerin: Die Gewerkschaft der Polizei, die gerne strafrechtliche Mittel gegen junge Täter einsetzen möchte. Doch was sagt der Jurist und Rechtsphilosoph Dr. Alessandro Bellardita zu der Erweiterung der Schuldfähigkeit?

Dr. Alessandro Bellardita ist Richter, Buchautor und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Rechtspflege in Schwetzingen. © Bellardita

„Ich möchte das Thema angehen, wie eine Urteilsbegründung im Gerichtssaal“, beginnt der Richter. So wolle er zunächst sein Urteil sprechen, das er dann begründe. „Mein Ergebnis ist eindeutig verwerfend. Das heißt, dass ich strikt gegen eine Senkung des strafbaren Alters bin.“

Die für ihn überzeugendste Argumentation stamme aus der Rechtsphilosophie, erklärt der Buchautor: „Nehmen wir als Ausgangspunkt die Definition der Strafmündigkeit, demnach ist sie nämlich die kognitive Fähigkeit, Recht von Unrecht unterscheiden zu können.“ Folglich sei man also dann strafmündig, wenn man den symbolischen Charakter des Gesetzes verstehe, sagt Bellardita: „Es geht darum, den Sinn hinter dem Gesetz nachzuvollziehen.“

Den Sinn durchdringen können

Es reiche eben nicht, nur den Gesetzestext lesen zu können – der Strafmündige müsse viel mehr durchdringen, weswegen die Gesellschaft Gesetze benötige, meint er. „Am Beispiel des Fernsehens: Das Kind darf eine Stunde am Tag vor der Glotze sitzen und versteht das. Das heißt aber noch lange nicht, dass das Kind versteht, warum länger schauen schlecht für die Entwicklung ist.“

Doch was ist der Sinn einer Strafnorm, deren Inhalt grundsätzlich für Personen ab 14 Jahren bindend ist? „Ganz einfach runtergebrochen muss man verstehen, dass es immer Grenzen gibt, die dafür da sind, das Zusammenleben zu ermöglichen“. Mit anderen Worten: Der Sinn für Gesetze besteht darin, zu erkennen, dass grenzenloses Handeln Willkür und daher unzulässig ist. Und genau hier liege auch das Problem – der Zeitgeist verspreche Heranwachsenden Gegenteiliges: „Eigentlich bringen wir den Kindern eher bei, dass ihnen keine Grenzen gesetzt sind“, weiß der Jurist.

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Bellardita geht sogar noch einen Schritt weiter: „Wir leben in einer vaterlosen Gesellschaft.“ Damit meine er aber nicht, dass es mehr Maskulinität brauche: „Das heißt viel mehr, dass wir autoritäre Strukturen und Handlungsweisen immer weiter eliminieren.“ So seien beispielsweise Polizisten dazu angehalten, deeskalierend aufzutreten, Erziehungsratgeber würden immer stärker auf Kommunikation setzen und Lehrer würden so in den Schulen nicht mehr ernst genommen. „Da früher Autorität immer eng mit Gewalt zusammenhing, gibt es da ja auch gute Gründe für die Abschaffung des Autoritätsgedanken“, findet der Richter. „Andererseits ist Kindern und Jugendlichen einfach eine rebellische Kraft immanent, die Autorität braucht.“

Philosoph Jacques Lacan zeigt laut Bellardita Widerspruch auf

Auf diese natürliche Rebellionskraft mit Strafen zu reagieren, das erscheint Bellardita kontraproduktiv: „Die Erziehung wird lascher, dafür soll der Staat härter durchgreifen? Das passt doch nicht zusammen.“ Gedanken, die der Jurist vor allem seinem Lieblingsphilosophen verdankt: „Der Franzose Jacques Lacan hat diesen Widerspruch aufgezeigt und schon in den 1960ern gefordert, Grenzen durch Überzeugung zu vermitteln.“

Das sei nämlich genau der Punkt: Bellardita wünscht sich, dass die Gesellschaft zum ursprünglichen Autoritätsbegriff zurückkehrt: „Der Begriff stammt aus dem Lateinischen ,Autoritas’ und bedeutet so viel wie ,überzeugende Kraft’. Das hat überhaupt nichts mit Gewalt zutun.“

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Aus der Rückkehr zu diesem ursprünglichen Autoritätsbegriff ergebe sich dann ein Wandel in der Erziehung und in der Kommunikation, glaubt Bellardita: „Wir müssen die Kinder davon überzeugen, weswegen unsere Regeln sinnvoll sind und sich alle daran halten müssen.“ Wenn man Kindern immer nur sage, dass sie bei roter Ampel stehen bleiben müssen, würden sie das nie reflektieren: „Wenn man aber erklärt, weswegen sie nicht rübergehen sollten, dann verinnerlicht das Kind den Sinn der Regel und versteht, dass gegenteiliges Verhalten gefährlich ist.“

Ungefähr wie das Gebot, bei roter Ampel stehen zu müssen, habe jedes Gesetz ein tieferes Sinnelement. „Beispielsweise hat Diebstahl ein solidarisches Element. Kindern kann man den Sinn dahinter super beibringen, wenn man ihnen vor Augen führt, dass sie ja auch nicht bestohlen werden möchten.“

Die virtuelle Welt sieht echt aus

Selbst wenn die Erziehung wieder zu autoritären Prinzipien im ursprünglichen Sinne zurückkehren würde, sieht der Rechtswissenschaftler ein Problem: das Internet. „Was wir als Menschen, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind, nicht verstehen, ist, dass für die Kinder die virtuelle Welt auch echte Realität ist.“ Allerdings suggeriere gerade diese Welt eine Art Grenzenlosigkeit: „Im Internet kann jeder alles sein. Da werden Grenzen immer weiter gefasst. Wenn Kinder aber in dieser virtuellen Welt aufwachsen, dann wirkt das konträr zu härteren gesetzlichen Grenzen in der Kindheit“, weiß der Jurist.

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Ein weiteres Problem sei ein drohender Wertungswiderspruch im Falle einer Senkung des Schuldfähigkeitsalters: „Das heißt, dass zwei Gesetze im Sinn widersprüchlich wirken.“ Einen solchen erkennt der Rechtswissenschaftler etwa im Verbot von Kinderarbeit: „Mit zwölf arbeiten, das ist nicht okay. Aber Kinder mit zwölf Jahren wegen einer Straftat zu verurteilen und in extremen Fällen in den Jugendknast zu stecken, das soll in Ordnung sein?“, fragt Bellardita provokant.

  • Info: Der zweite Teil der Serie mit dem Titel „Die Versuchung der Mauer“ folgt in den nächsten Tagen.

Volontariat Noah Eschwey ist Volontär in der Lokalredaktion der Schwetzinger Zeitung/Hockenheimer Tageszeitung.

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