Speyer. Was macht ein Literaturkritiker, der sich regelmäßig über Bestsellerlisten mokiert, jetzt aber mit einem eigenen Buch selbst in solchen Listen auftaucht? Er nimmt’s, sofern sie ihm zu Gebote steht, mit schwäbischer Gelassenheit. Darin ist Denis Scheck wahrlich nicht zu übertreffen. Sie gewährt dem 1964 in Stuttgart Geborenen auch den ironischen Umgang mit sich selbst. Dahinter wird ein Mensch sichtbar, der sich trotz seiner enzyklopädischen Belesenheit offensichtlich gerne auf Augenhöhe mit seinem Publikum begibt.
Dass er nun einen Kanon mit den 100 wichtigsten Werken der Weltliteratur veröffentlicht hat, entspringt keineswegs einem bislang unentdeckten Hang zum gelehrten Kulturdogmatismus. „Schecks Kanon“ ist, was der Titel besagt: das persönliche Bekenntnis eines Lesers zu seinen Büchern. Das Spektrum ist dabei weit gespannt: von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Struppi“. Je nach Zeit und Lebenslage hätte die Zusammenstellung auch ganz anders ausfallen können.
Was jedoch niemals in einen Scheckschen Kanon aufgenommen werden wird, ist billige Massenware. Scheck nennt sie „Verblödungsangebote“. Autorennamen wie Fitzek, Fröhlich und Coelho stehen für Bücher, die das Potenzial haben, irreparable geistige Schäden zu verursachen, wie Scheck eindringlich mahnt.
Austen, Kafka und Hemingway
Bereits zum dritten Mal in der Reihe Speyer.Lit zu Gast, genießt der Literaturkritiker gewissermaßen ein Heimspiel. Beim Joggen in Köln sei er neulich seiner Kollegin Elke Heidenreich begegnet. Diese habe von ihrem eigenen Auftritt bei Speyer.Lit geschwärmt. „Wovon redet man in den großen Städten Deutschlands? Über Speyer!“ lässt Scheck sein Publikum in der bis auf den letzten Platz besetzten Heiliggeistkirche wissen.
Dort liest er Passagen aus seinem Kanon, in den zwar nicht Anna Seghers oder Siegfried Lenz Eingang gefunden haben. Dafür aber Jane Austen, Franz Kafka und Ernest Hemingway. Was die Bücher dieser Autoren zur Weltliteratur machen? „Weil sie meinen Blick auf die Welt nachhaltig verändern“, sagt der Kritiker und Leser.
Schecks Verhältnis zur Literatur ist ein existenzielles: „Sie hat mir das Leben gerettet“, macht er glaubhaft, ohne sich in biografischen Details zu verlieren. Am Wehklagen über den vermeintlichen Untergang des Buches beteiligt er sich nicht – auch wenn ihn die Zahl von über 16 Millionen „radikalen Nichtlesern“ in diesem Land erschreckt. Dazu rechnet Scheck auch seinen Kameramann, der ihn seit Beginn der ARD-Sendung „Druckfrisch“ vor 17 Jahren auf Schritt und Tritt begleitet. Bis heute habe er aus ihm keinen Leser machen können, muss Scheck eingestehen. Vielleicht, so raunt er sardonisch, müsse man der wachsenden Zahl von Nichtlesern mit der Aussicht des Entzugs der Wahlberechtigung oder des Sexverbots begegnen.
Jene Passagen, die er aus seinem aktuellen Buch liest, sind gespickt mit Pointen und galanten Sottisen. Wir erfahren, auf welche Weise sich Schecks Abneigung gegenüber Kafka in eine „wunderbare Freundschaft“ verwandelt hat. Und dass es jener „Dreiklang aus Liebe, Schönheit und Tod“ ist, der ihn an Hemingways Erzählung „Das kurze und glückliche Leben des Francis Macomber“ fasziniert.
Wir erhalten sogar einen kleinen Einblick ins Private, das Denis Scheck ansonsten gegen jede öffentliche Neugier abschottet: Woher er sich die Zeit nehme, um all die vielen Bücher zu lesen, will eine Zuhörerin wissen. Nun ja, den Müll bringe er zu Hause nicht runter, auch wenn ihn seine Frau darum bitte, räumt Scheck freimütig ein. Wer aus beruflichen Gründen pausenlos lesen muss, genießt zusätzlich das Privileg, in Fällen wie diesem eine gute Ausrede zu haben.
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