Speyer. Vier Jahre nach seinem ersten Auftritt in Speyer mag seine Physiognomie noch verdrießlicher wirken. Doch Christoph Ransmayr ist kein griesgrämiger Schriftsteller, der seine Lesung einfach abspult, weil es nun einmal zum Geschäft gehört. Einmal ins Plaudern gekommen, gibt der Wiener Autor Auskunft über das Schreiben im Besonderen und das Leben im Allgemeinen.
So spielt sich der interessanteste Moment auf der Lesebühne der literarischen Reihe Speyer.Lit nicht etwa während des eigentlichen Vortrags ab, sondern davor. Mit sprachlichen Lockerungsübungen stimmt sich Ransmayr auf sein Leseprogramm ein. In diesem Prolog erfährt man beispielsweise, dass der aktuelle Roman „Der Fallmeister“ keineswegs, wie in Rezensionen gängigerweise behauptet, als Dystopie zu verstehen sei.
Ein Satz wie ein Paukenschlag
Gegen jene Szenen und Figuren, wie wir sie alltäglich in den Nachrichten zu sehen bekämen, sei der Roman eher harmlos, meint sein Autor. Vielmehr handele es sich um ein literarisches „Spiel mit der Möglichkeit“. Freilich beginnt Christoph Ransmayrs Roman mit einem Paukenschlag, den er auch als Auftakt für seine Lesung in Speyer einsetzt, nämlich mit jenem verhängnisvollen ersten Satz: „Mein Vater hat fünf Menschen getötet.“ Was dann folgt, bedient mitnichten Erwartungen an das Genre eines Krimis oder eines Thrillers. Auch wenn der Untertitel „Eine kurze Geschichte vom Töten“ verheißt. Vielmehr ist der neue Roman des österreichischen Schriftstellers auch eine Auseinandersetzung mit der Zeit. Dafür steht das Element des Wassers, das sich rauschend in ferne Weiten verströmt, glucksend an idyllischen Uferrändern verharrt oder sich via Strömungsumkehr unaufhaltsam seiner Quelle zuwendet.
Und so verbirgt sich im Agieren des Fallmeisters, dem der eigene Sohn jene fünf Morde zur Last legt, eine Sehnsucht nach dem „Glanz der Vergangenheit“, da ein Schleusenwärter als Herr über Leben und Tod in hohem Ansehen stand. Die vermeintliche Linearität der Zeit ist in Ransmayrs Roman vielfach gebrochen, spiegelt sich im individuellen Dasein seiner Figuren wie in globalen Vorgängen, was etwa am politischen Schicksal Kambodschas demonstriert wird.
Das Spiel mit den Möglichkeiten kreist schließlich um die Frage, was den Menschen von der Bestie trennt. Die Verneinung der Gegenwart taucht hierbei als entscheidendes Moment auf; und schon ist der in einer imaginären Zukunft spielende Roman bei den Phänomenen von Segregation und Nationalismus angelangt, mit denen der Autor auch auf aktuelle Ereignisse auf dem europäischen Kontinent anspielt. Christoph Ransmayr, der seine Romane selbst als Hörbücher einspricht, liest das erste und dritte Kapitel seines Romans in variablen Tempi, differenzierter Artikulation, wechselnden Stimmintensitäten und Vokalfärbungen. Die geschilderten Szenen erlangen auf diese Weise eine plastische Präsenz, ganz zu schweigen von der Sinnlichkeit, die das dominierende Element des Wassers versprüht.
Anfang und Ende von allem
Doch weist der Autor dem kostbaren Rohstoff eine weitere Bedeutung zu: als Wirtschafts- und Machtfaktor, der in den Fokus kriegsbereiter Staatsführer rückt. Und so liegt im Wasser nicht nur der Anfang von allem, sondern auch die Zukunft der Menschheit. Ransmayr vernäht die poetische Valenz des Wassers mit Entwicklungen im Weltmaßstab. Seine Sätze, die trotz ihrer verschachtelten Struktur ohne Stockungen fließen, beginnen in den Ohren zu rauschen. Ein Wortmagier und Erzählkünstler, der einer solchen Lesung dank einer fast schon vokalen Sprachgestik dem Vorgang des stummen Lesens gegenüber deutliche Vorzüge abgewinnt.
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