Speyer. Um das Leben zweier Schwestern mit einer alkoholkranken Mutter geht es im Roman „22 Bahnen“ von Caroline Wahl. Ein schwieriges Thema. Doch die 1995 in Mainz geborene und bei Heidelberg aufgewachsene Autorin hat das Sujet in einer ebenso glaubhaften wie unprätentiösen Art bewältigt und damit die Branche überzeugt: Im vorigen Jahr wurde der Roman zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt. Die stattliche Besucherkulisse bei Caroline Wahls Lesung in der Reihe Speyer.Lit gab einen Eindruck vom Ausnahmeerfolg einer Schriftstellerin, die noch am Anfang ihrer Karriere steht.
Mit ihrer markanten Erscheinung, einer vagen Mischung aus Mädchen und Punk, verschaffte sich die selbstbewusst wie bescheiden auftretende Autorin die Sympathien ihres Publikums im Speyerer Alten Stadtsaal. Derart viele Besucherinnen und Besucher habe sie noch nie erlebt, bekannte Caroline Wahl, die heute in Rostock lebt, und zählte diese Lesung flugs zu den „Top drei“ ihrer bislang 85 Auftritte. „Speyer ist cool“, meinte sie und präsentierte ihren überwiegend weiblichen Lesern stolz ein paar Modeschmuck-Accessoires, die sie sich kurz zuvor noch in der Stadt besorgt hatte.
Tildas Leben verläuft zwischen Supermarktkasse, Schwimmbad und einem tristen Zuhause, in dem die Mutter meist auf dem Sofa dahinvegetiert. Doch sie bildet mit ihrer kleinen Schwester Ida eine Überlebensgemeinschaft, in der sich beiden Töchtern auch Auswege eröffnen. Das Schwimmerbecken und eine Stadtbibliothek erweisen sich als Zufluchtsstätten. Auch eine kleine Liebesgeschichte verspricht Ablenkung. Freilich bleibt die dem Alkohol hilflos verfallene Mutter eine Herausforderung; wird sie von ihren Töchtern mal als „Monster“ gesehen, porträtiert sie die Autorin doch auch als bemitleidenswertes Opfer von Verhältnissen, die zu ergründen im Roman gar nicht erst versucht wird.
Direkt und unverschnörkelt
So schonungslos die Szenen geschildert werden, in denen Tilda und Ida überfordert scheinen, so rührt „22 Bahnen“ doch vor allem dann ans Herz, wenn es beiden Schwestern gelingt, diesem Leben immer wieder auch schöne Seiten abzutrotzen. Dabei koloriert die Autorin ihren Roman nicht mit psychologischen Erläuterungen aus, sondern vertraut der Erzählung als solches. Ihr direkter und unverschnörkelter Schreibstil, dies wird auch bei ihrer Lesung deutlich, hilft dabei, sich in diesem kritischen Milieu zurechtzufinden. Beim Schreiben sei sie weniger planmäßig als intuitiv vorgegangen, gewährt die junge Schriftstellerin Einblick in ihre Werkstatt.
Wer einen Plot so authentisch entwirft wie Caroline Wahl, muss sich über Fragen nach autobiografischen Bezügen nicht wundern. Die Autorin gibt auf entsprechende Fragen aus dem Speyerer Publikum eine klare Antwort: „Ich wollte in meinem ersten Roman partout nicht über mich selbst schreiben.“ Stattdessen habe sie gründlich recherchiert und sich unter Betroffenen umgehört. Von Beginn an sei es ihr darum gegangen, eine moderne Heldinnenfigur mit sensiblen Seiten zu erschaffen. Womöglich ist das die autobiografische Spur, der sich vom Roman zu jenem Bild verfolgen lässt, das eine Autorin von sich selber hat.
Im Gespräch mit dem Publikum stellt sich Caroline Wahl in ihren Lesepausen als eine sympathische junge Frau vor, der auch ältere Leserinnen und Leser Bewunderung zollen – bis hin zu schmeichelnden Vergleichen mit Klassikerinnen der Weltliteratur wie Jane Austen. Eine andere Besucherin berichtet, dass sie seit der Lektüre des Romans nun auch regelmäßig 22 Bahnen schwimme – allerdings im Hallenbad. Im Freibad mit den längeren Strecken seien es nur elf.
Im Alten Stadtsaal entspannt sich eine vertrauliche und auf gegenseitigem Wohlwollen beruhende Atmosphäre, in der Caroline Wahl ein Kleeblatt und ein selbstgebasteltes Lesezeichen aus den zerfledderten Seiten ihres Leseexemplars fischt. Sie freue sich über solche Geschenke, sagt sie. Und strahlt nach den vielen freundlichen Komplimenten ihres Speyerer Publikums über das ganze Gesicht.
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