Speyer. Heide-Marie Lauterer schreibt Romane, Reiterkrimis, Kurzgeschichten, Sachbücher und ist Mitglied der Künstlervereinigung Gedok, der Literatur Offensive und dem Heidelberger Textsalon. Ihr jüngster Roman spielt in Speyer und beschäftigt sich mit dem Leben ihrer Großmutter, die vier Tage nach der Geburt ihres Vaters starb. Wir sprachen mit der in Heidelberg lebenden Autorin und promovierten Historikerin über „Das zweite Leben“, erschienen im Draupadi Verlag.
Wann kamen Sie zum ersten Mal in Kontakt mit Ihrer Großmutter?
Heide-Marie Lauterer: Ich habe lange nicht gewusst, dass meine richtige Großmutter früh verstarb. Im Alter von elf Jahren habe ich zufällig an der Wand im „Herrenzimmer“ Fotos angeschaut. Da gab es ein Hochzeitsfoto, wo eine junge, hübsche Frau mit meinem Großvater zu sehen war, und daneben gab es Fotos mit meiner Großmutter Auguste in Wanderkleidung. Ich habe verglichen und gesehen, dass das unterschiedliche Frauen waren. Die eine sah eher träumerisch aus, die andere wirkte so, als stünde sie mit beiden Beinen fest im Leben. Ich habe meine Mutter gefragt und erfahren, dass die träumerisch aussehende Frau meine richtige Großmutter sei. Das war ein Schock, dann aber habe ich die Situation hingenommen, ich hatte schließlich meine Großmutter Auguste, die mir Märchen vorlas und mit der ich gut klarkam.
Und wann kam der Impuls, über die richtige Großmutter zu schreiben?
Lauterer: Ungefähr vor zehn Jahren habe ich eine Familienaufstellung gemacht, und in diesem Zusammenhang habe ich mich an meine richtige Großmutter erinnert. Auch gab es eine seltsame Begegnung im Café Herrdegen in Mannheim. Ich aß dort mit meinem Mann Rüblitorte, und uns gegenüber saß eine Frau, die nach der Mode des 19. Jahrhunderts gekleidet war, knöchellanger Rock, hochgeschlossene Bluse, das Haar aufgesteckt. Ich machte unauffällig ein Foto, dachte, sie sei eine Stadtführerin im historischen Gewand oder eine Schauspielerin. Zu Hause wollte ich mir das Foto ansehen, doch ich konnte es nicht finden. In den folgenden Jahren dachte ich nicht mehr an die Geschichte, bis ich eines Morgens im Halbschlaf eine Stimme hörte: „Geh nach Speyer ins Stadtarchiv!“ Das war 2019, als meine verstorbene Großmutter mir den Startschuss für den Roman gab.
Können Sie uns etwas mehr über dessen Inhalt verraten?
Lauterer: Meine Großmutter Marie Berthold war die Tochter eines angesehenen Speyerer Hof-Musikinstrumenten-Fabrikanten. Zum Leidwesen ihrer Eltern verliebte sie sich in den Studenten Georg, der im Hasenpfuhl, dem Armenviertel der Domstadt, aufwuchs. Auch als Georg 1914 als Landsturmmann an die Westfront und später an die Ostfront geschickt wurde, hielten sie ihre Verbindung aufrecht. Sie heirateten kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs. Marie starb ein Jahr später im Kindbett, ihr Sohn war vier Tage alt.
Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Lauterer: In meiner Familie wurde eigentlich nie über meine Großmutter gesprochen, aber am Ende seines Lebens hat mein Vater gesagt, dass sie nicht im Familiengrab liege, sondern im Grab ihrer Mutter. Und das war für mich ein Glücksfall. Die Bertholds hatten nämlich in Speyer ein großes Familiengrab, auf dem aber nur die Männer namentlich erwähnt wurden. Wäre meine Großmutter da reingekommen, hätte ich sie nicht gefunden. So jedoch konnte ich ihren Grabstein ausfindig machen. Und dann war ich im Stadtarchiv Speyer, wo mir eine Archivarin viele Informationen über die Familie Berthold rausgesucht hat, die Klarinetten und Oboen für die großen Orchester in ganz Europa und sogar Amerika herstellten. Meine Großmutter spielte Mandoline.
Und diese Mandoline haben Sie gefunden, als Sie die Wohnung Ihrer Eltern auflösten …
Lauterer: … ja, und mein Mann spielt sie jetzt. Als ich angefangen habe zu schreiben, hat er angefangen, Mandoline zu spielen. Das hat uns quasi durch die Corona-Zeit getragen, das Schreiben und Musizieren.
Hat Ihnen diese Wohnungsauflösung auch weiter geholfen, sich der Großmutter zu nähern?
Lauterer: Ja, im Herrenzimmer öffnete ich plötzlich Schubladen, die ich zuvor nie geöffnet hatte, fand persönliche Gegenstände und Fotoalben, die meine richtige Großmutter in ihrer Jugend zeigten. Sie hatte immer leicht melancholische Züge, es gibt wenig Fotos, wo sie lacht. Ich habe auch Bücher gefunden, die mein Großvater ihr gewidmet hat. Das hat mich alles sehr berührt und geholfen, mich ihr anzunähern.
Sie haben auch Briefe an die Großmutter in den Roman eingestreut. Welche Funktion haben diese Briefe?
Lauterer: Nachdem ich ungefähr ein Drittel des Romans geschrieben hatte, fragte ich mich, wie es weitergehen sollte. Na ja, und da habe ich eben mit meiner Großmutter brieflichen Kontakt aufgenommen. Ich habe von mir erzählt, von dem, was mein Leben beeinflusst, habe ihr von der Pandemie und vom Ukraine-Krieg erzählt, und das hat mir geholfen, wieder in den Schreibprozess zu finden. Im Nachhinein würde ich diese Briefe aber auch als eine Art von Distanzierung ansehen, durch die ich als Autorin deutlich mache, dass meine Großmutter möglicherweise so gewesen ist, wie ich sie beschreibe, möglicherweise aber auch ganz anders.
Bisher haben sie Krimis, Kurzgeschichten und Romane geschrieben. Was war bei diesem Werk anders, was war neu?
Lauterer: Wie gesagt, ich bin Historikerin und habe viele Jahre an der Hochschule in diversen Forschungsprojekten gearbeitet. Als ich dann begann, literarisch zu schreiben, wollte ich mich anderweitig ausprobieren. Das hat auch Spaß gemacht, aber bei der Arbeit an „Das zweite Leben“ hat sich beides wieder verbunden, konnte ich Historikerin und Geschichtenerzählerin zugleich sein.
Hat Sie das Schreiben dieses Romans auch persönlich verändert?
Lauterer: Auf jeden Fall. Spannend war es, den Moment mitzuerleben, in dem mir meine Großmutter zuflüsterte „So, jetzt reicht's“, ich als Autorin in den Hintergrund trat, und meine Großmutter selbst die Regie in die Hand nahm. Und natürlich war das Schreiben dieses Buchs wichtig, weil ich mit dem abgetrennten Teil der Familie meines Vaters, also mit der Großmutter, in Kontakt kam, und ihr kurzes Leben nachvollziehen konnte. Es hat sich für mich eine Lücke geschlossen, indem ich nach meinen Wurzeln gesucht habe, und das empfinde ich als sehr beglückend.
Lektüre
Lauterer, Heide-Marie: „Das zweite Leben“, Draupadi Verlag Heidelberg 2024, ISBN 978-3-949937-01-9, 22 Euro.
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