Mannheim. Ein Polizist kontrolliert einen Autofahrer und möchte den Führerschein sehen. Der Mann weigert sich. Die Bundesrepublik sei kein legaler Staat, ihre Vertreter hätten gar nichts zu sagen. Obwohl der Arm des Polizisten durch die offene Scheibe gestreckt ist, gibt der Fahrer Gas. Der Beamte wird verletzt.
Diesen Vorfall aus dem schwäbischen Horb schilderte gestern bei einer Expertenrunde in Mannheim die Präsidentin des Landesverfassungsschutzes, Beate Bube. Nach ihren Worten sind die sogenannten Reichsbürger ein zunehmendes Problem. Gewalt gegen Staatsvertreter sei in Baden-Württemberg zwar bisher nur "in Einzelfällen im einstelligen Bereich" registriert worden. Sorge bereite aber vor allem die "starke Waffenaffinität" vieler Reichsbürger.
Tödliche Schüsse
Bube erinnert an den Vorfall im mittelfränkischen Georgensgmünd, wo vor einem Jahr ein 49-Jähriger in seiner Wohnung auf Polizisten schoss, nachdem sein Jagd- und Waffenschein für ungültig erklärt worden waren. Dabei wurden drei Beamte getroffen, ein 32-Jähriger erlag im Krankenhaus seinen Verletzungen.
"Es musste leider erst zu den tödlichen Schüssen kommen, bevor das Problem bundesweit ernstgenommen wurde", klagt Politikwissenschaftler Jan Rathje von der Amadeu Antonio Stiftung (mitgetragen von der Weinheimer Freudenberg Stiftung). In Baden-Württemberg widme der Verfassungsschutz den Reichsbürgern schon länger verschärfte Aufmerksamkeit, berichtet der zuständige Referatsleiter Lars Legath. Anlass sei der verstärkte Zulauf, den die Szene Ende 2015/Anfang 2016 bekommen habe. Alle Behörden im Lande seien aufgefordert worden, auffällige Personen mit typischem Verhalten zu melden.
Aktuell wird die Zahl der Reichsbürger in Baden-Württemberg auf 2200 geschätzt. "Und das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange", glaubt Legath. Bei deutschlandweit rund 15 000 Reichsbürgern wäre der Südwesten somit eine Hochburg. Doch der Verfassungsschützer sieht sein Land "eher im Bundesschnitt". Andere Länder seien bei ihren Schätzungen deutlich zurückhaltender.
Laut Legath ist der durchschnittliche Reichsbürger 50 Jahre alt und männlich (der Frauenanteil liege bei 24 Prozent). Mehr empirische Erkenntnisse - etwa zum Bildungsniveau - habe man leider noch nicht. Der Grund für die Radikalisierung sei häufig eine individuelle Krise biografischer oder finanzieller Art.
Politikwissenschaftler Rathje weist darauf hin, dass viele Reichsbürger hoch verschuldet seien - was Konflikte mit der Finanzverwaltung auslöse. Statt ihnen nur mit staatlicher Härte zu begegnen, solle man versuchen, sie beispielsweise über eine Schuldnerberatung zu erreichen. Vor allem sei die Zivilgesellschaft hier gefordert. Das gelte auch, "wenn jemand in seinem Garten eine Reichskriegsflagge aufhängt".
Mit diesem Thema beschäftigt sich auch Annette Dorothea Weber von der Künstlerwerkstatt COMMUNITYartCENTERmannheim. Sie hat ein Theaterstück über Reichsbürger ("Rechts: ex und pop") geschrieben, das deutschlandweit aufgeführt wird. "Man kann sich über die lustig machen und sagen: Das sind alles Spinner", sagt Weber. Humor schaffe aber eine gefährliche, weil verharmlosende Distanz. Wichtig sei, das Problem öffentlich zu diskutieren. So missfällt der Mannheimer Künstlerin, dass Oberbürgermeister Peter Kurz mit Xavier Naidoo und anderen "Söhnen" nur hinter verschlossenen Türen über das Lied "Marionetten" gesprochen habe. Darin würden eindeutig Reichsbürger-Begriffe wie "Selbstverwalter" verwendet. Das sei in der Szene "extrem positiv" angekommen.
In der vom Mediendienst Integration organisierten Expertenrunde wird auch deutlich, dass es bei Reichsbürgern sowohl Einzelpersonen als auch kleinere Gruppen gibt. Hinzu kommen Sonderfälle wie der Schwetzinger "Nazi-Druide" (so Rathje), der im Januar unter Terrorverdacht geriet. Anders als bei sonstigen Rechtsextremen seien Aussteigerprogramme in dieser Szene aussichtslos, sagt Legath: "Wer einmal drinnen ist, bleibt auch drinnen."
Rechtsextrem und antisemitisch
- Der baden-württembergische Verfassungsschutz definiert Reichsbürger als "Gruppierungen sowie Einzelpersonen, welche die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen".
- Daher akzeptieren sie auch keine staatlichen Vertreter und verweigern sich häufig deren Anweisungen.
- Verfassungsschützer schätzen die Zahl der Reichsbürger auf bundesweit 15 000. In Baden-Württemberg sollen es rund 2200, in Hessen 1000 und in Rheinland-Pfalz fast 500 sein.
- Viele sind rechtsextrem und antisemitisch. So ist eine beliebte Theorie, es gebe eine jüdische Weltverschwörung, die in der "Deutschland-GmbH" heimlich die Fäden ziehe.
- Manche Reichsbürger nennen sich "Selbstverwalter" und rufen ein eigenes Hoheitsgebiet aus.
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