Rücktritt - Der Umgang mit der Flutkatastrophe im Ahrtal bringt die Bundesfamilienministerin zu Fall / Doch die Gründe liegen tiefer

Das Scheitern der Anne Spiegel

Von 
Theresa Martus
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Trotz eines emotionalen Auftritts mit Entschuldigung gibt Anne Spiegel ihr Amt nun auf. © Annette Riedl/dpa

Anne Spiegel hoffte wohl, dass es nicht ihr letzter Auftritt sein würde als Familienministerin, als sie am Sonntagabend vor die Kameras tritt. So kurzfristig hatte ihr Ministerium zu einem Statement eingeladen, dass viele Beobachter schon zu diesem Zeitpunkt damit rechneten, die Ministerin werde das Handtuch werfen. Doch Spiegel will nicht kampflos aufgeben. Nicht gehen, ohne wenigstens den Versuch zu machen, sich zu erklären.

Erklärungsbedarf gab es genug: Seit Wochen stand die 41-Jährige in der Kritik wegen ihres Umgangs mit der Flut im Ahrtal in ihrer Zeit als Umweltministerin in Rheinland-Pfalz. Als am Sonntag bekanntwird, dass sie nur zehn Tag nach der Hochwasserkatastrophe zu einem vierwöchigen Familienurlaub in Südfrankreich aufgebrochen war, muss sie sich rechtfertigen. 134 Todesopfer, Tausende Existenzen in Trümmern - warum fährt eine verantwortliche Politikerin in einem solchen Moment in die Ferien?

Spiegel antwortet mit tiefen Einblicken in ihr Privatleben. Im März 2019, sagt sie, habe ihr Mann, der sich um die vier gemeinsamen Kinder kümmert, einen Schlaganfall erlitten. In der Folge habe er „ganz unbedingt“ Stress vermeiden sollen. Doch die Corona-Pandemie habe die Familie, deren Kinder im Kita- und Grundschulalter sind, stark belastet und auch bei den Kindern Spuren hinterlassen, so die Ministerin. Die Kinder seien „nicht gut“ durch die Pandemie gekommen.

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Druck übermächtig

Spiegel war seit 2016 Familienministerin in Rheinland-Pfalz. Im November 2020 übernahm sie die Spitzenkandidatur der Grünen für die Landtagswahl 2021. Als ihre Parteifreundin Ulrike Höfken zurücktrat, wurde sie im Januar 2021 zusätzlich noch Umweltministerin in Mainz.

Ein Fehler, wie sie am Sonntagabend sagt. „Es war zu viel. Das hat uns als Familie über die Grenze gebracht.“ Der Urlaub im Sommer sei nötig gewesen, „weil mein Mann nicht mehr konnte“. Doch rückblickend sei auch die Reise ein Fehler. Anders als zuvor behauptet, auch das räumt die Grünen-Politikerin ein, hatte sie aus den Ferien heraus auch nicht an Sitzungen des Mainzer Landeskabinetts teilgenommen.

Sichtlich belastet steht die Ministerin da vor den Kameras, spricht stockend. Presst immer wieder die Lippen fest aufeinander, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie entschuldigt sich, „ausdrücklich“.

Doch statt Transparenz und Verständnis erzeugt Spiegel nachhaltig den Eindruck einer Ministerin, die unter den Anforderungen von allen Seiten fast zu zerspringen scheint. Es war, es ist alles zu viel: Das ist die unüberhörbare Botschaft dieses Auftritts, auch wenn es wohl nicht die war, die Spiegel senden wollte. Am Montagnachmittag ist dann endgültig klar, was sich am Vorabend schon abzeichnete: Der Versuch der Flucht nach vorn ist gescheitert. Und Spiegel ist es als Ministerin auch. In vier knappen Sätzen erklärt sie per Statement ihren Rücktritt. Sie gebe ihren Posten als Bundesfamilienministerin ab, „um Schaden vom Amt abzuwenden, das vor großen politischen Herausforderungen steht“. Der Druck war übermächtig geworden.

Vor gerade einmal 125 Tagen hatte die 41-Jährige ihre Amtsurkunde von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erhalten und die Koffer gepackt, um mit ihrem Mann und den vier Kindern nach Berlin überzusiedeln. Sie hatte sich Großes vorgenommen für die Legislaturperiode: Ihr zentrales Projekt war die Bekämpfung von Kinderarmut und die Einführung einer Kindergrundsicherung. Die entsprechende interministerielle Arbeitsgruppe hatte gerade erst losgelegt.

Doch schon bald verfolgen sie die Verantwortlichkeiten ihrer vorherigen Aufgaben. Seit längerem hatte es Kritik gegeben an Spiegels Umgang mit der Flutkatastrophe, nachdem SMS zwischen ihr und ihrem damaligen Sprecher aufgetaucht waren, in denen sie vor allem um die eigene Außendarstellung in der Krise besorgt schien. Die Opposition in Rheinland-Pfalz forderte ihren Rücktritt, mehr als drei Stunden lang hatte ein Untersuchungsausschuss zur Flut im Mainzer Landtag sie dazu befragt. Als die Nachricht des Urlaubs die Runde macht, werden die Rufe immer lauter.

Die Grünen-Spitze versuchte deshalb offenbar schon am Sonntag, Spiegel dazu zu bewegen, ihr Amt niederzulegen. Laut „Bild“ gab es eine Krisensitzung mit Wirtschaftsminister Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock sowie den Partei- und Fraktionsvorsitzenden. Dabei sei Spiegel der Rücktritt nahegelegt worden, sie habe aber gebeten, noch eine Chance zu bekommen.

Die Chance bekommt sie zunächst - doch Unterstützung gibt es von der Partei nicht mehr. Eisern schweigen die Mitglieder des Parteivorstands und Spiegels grüne Kabinettskolleginnen und -kollegen am Abend und bis weit in den Montag hinein. Die Parteispitze habe am Sonntag und Montag eng mit Spiegel in Kontakt gestanden, sagt die grüne Co-Parteichefin Ricarda Lang am Montagnachmittag. „Wir haben größten Respekt vor ihrem Mut, vor ihrer Klarheit und danken ihr für dieses sehr persönliche Statement, das auch uns sehr nahe ging, das uns, glaube ich, allen unter die Haut gegangen ist.“

Scholz „persönlich bewegt“

Kanzler Olaf Scholz (SPD), lässt Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann verlauten, habe den Schritt mit Respekt zur Kenntnis genommen. Spiegels Statement habe ihn „auch persönlich bewegt und betroffen gemacht“. Die Grünen sind nun am Zug, bald eine Nachfolgerin zu präsentieren.

Nachdenklich meldet sich Spiegels Parteifreundin und Außenministerin Annalena Baerbock zu Wort. Spiegel sei durch eine „extrem harte, persönlich unglaublich schwere Zeit“ gegangen, sagt Baerbock. „Mit dem heutigen Tag ist für sie nicht nur politisch, sondern auch persönlich ein Weg beschritten worden, der, glaube ich, deutlich macht, wie brutal Politik sein kann.“ Wie es für Anne Spiegel jetzt weitergeht, ist offen.

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