Brüssel. Zu den Brüsseler Gipfeltraditionen gehört, dass die Staats- und Regierungschefs nach ihrer Ankunft den langen roten Teppich entlangschreiten und sich dann vor Dutzenden Fernsehkameras den Fragen der Presse stellen. Olaf Scholz scheint für gewöhnlich nicht zu jenen Politikern zu gehören, die diese Momente besonders schätzen. An diesem Donnerstagmorgen aber nahm sich der Bundeskanzler mit zwölf Minuten ungewöhnlich lange Zeit im Scheinwerferlicht. Denn der SPD-Mann brachte eine Botschaft an die europäischen Partner zum Spitzentreffen mit: Es sei ihm wichtig, so sagte er, dass die im Frühjahr nach jahrelangen Verhandlungen verabschiedete EU-Asylreform „nicht nur allmählich umgesetzt wird, sondern forciert“.
Deutschland macht plötzlich Druck in Sachen Migration, nachdem die Bundesrepublik auf EU-Ebene jahrelang eher als Bremse betrachtet wurde. Doch seit dem Messeranschlag von Solingen und dem darauffolgenden Kurswechsel in der Berliner Flüchtlingspolitik ist zur Überraschung vieler Europäer offenbar alles anders. Nun fordert Scholz Tempo – und alle in der Gemeinschaft dazu auf, dem Beispiel der Ampelregierung zu folgen. Man werde „die dazu notwendigen Gesetze sehr schnell dem Deutschen Bundestag zuleiten, aber es wäre gut, wenn das überall in Europa früher eingeführt werden kann“, sagte er. Eigentlich gilt eine Implementierungsfrist von zwei Jahren. Das Recht würde demnach erst ab Juni 2026 zur Anwendung kommen.
Die neuen Regeln sollen die Zahl der Neuankömmlinge senken, Asylverfahren beschleunigen und an die Außengrenzen verlagern. Dabei bewerten einige Regierungen den Migrationspakt schon vor seiner Umsetzung als ungenügend. Andere streiten darüber, welche Teile der Reform denn nun vorgezogen werden sollen. Und dann sind da noch jene Länder mit Außengrenzen wie etwa Griechenland, Ungarn und Italien, die sich sträuben, die angestrebten schnellen Asylverfahren zügiger zu implementieren. Berlin macht vorneweg Druck auf Rom und Athen, Menschen zurückzunehmen, die dort erstmals in die EU eingereist, dann aber nach Deutschland weitergezogen sind.
Wie will die EU ihre Migrationspolitik künftig ausrichten? Es ist die Frage, die die Gemeinschaft nach den Erfolgen der Populisten in zahlreichen Ländern mehr denn je umtreibt. Der Rechtsruck scheint für so viel Angst zu sorgen, dass auf EU-Ebene ein Tabu nach dem anderen fällt. Es brauche „europäische Antworten“, war in Brüssel gebetsmühlenhaft von allen Seiten zu vernehmen. Tatsächlich gehen die Vorstellungen aber deutlich auseinander darüber, wie man der Herausforderung der irregulären Migration begegnen soll. Lediglich bei einer Sache scheinen alle 27 EU-Länder auf einer Linie zu liegen: Die Regeln sollen deutlich verschärft werden, um die Zahl der in Europa ankommenden Menschen zu senken und abgelehnte Asylbewerber schneller zur Ausreise zu zwingen.
Viel war von „innovativen Lösungen“ die Rede, wozu auch der jüngste Vorschlag der EU-Kommission gehört. Dieser zielt auf sogenannte „return hubs“ ab, Abschiebezentren in sicheren Drittstaaten außerhalb der Gemeinschaft. Als Vorbild für die Auslagerung von Asylverfahren gilt Giorgia Melonis Abkommen mit dem EU-Beitrittsland Albanien. Italiens Ministerpräsidentin lässt das Prozedere für Migranten, die außerhalb italienischer Gewässer aufgegriffen werden, unter italienischer Regie in albanischen Lagern durchführen. Hardliner fordern gar das „Ruanda-Modell“ und damit die Auslagerung an afrikanische Staaten. Doch Scholz zeigte sich skeptisch und verwies darauf, dass man logistisch nur eine kleine Zahl von Asylverfahren auslagern könnte. Für ein „so großes Land wie Deutschland“ seien solche Konzepte „nicht wirklich die Lösung“.
Bevor das Streitthema Migration eine lange Gipfelnacht bestimmen sollte, berieten die EU-Spitzen unter anderem über die Lage im Nahen Osten sowie die Ukraine. Es gab Zeiten, da galt Wolodymyr Selenskyj in Brüssel regelrecht als Politstar. Doch diese Zeiten scheinen spätestens seit Donnerstag vorbei zu sein. Da war Selenskyj zum Gipfel eingeladen – und es dürfte sein vielleicht schwierigster Auftritt im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs gewesen sein.
Viele blicken skeptisch auf Selenskyjs „Siegesplan“
Man müsse „Frieden durch Drohungen“ schaffen, warb er für die Unterstützung seines „Siegesplans“ gegen Russland, und die Ukraine stärken, um dann bereit für Diplomatie zu sein. Höflich im Ton blieben die Staatenlenker, doch die fast schon aufgesetzte Freundlichkeit konnte nicht überdecken, dass viele skeptisch auf die Pläne blicken. Vorneweg Deutschland lehnt den für die Ukraine zentralen Part ab: die Einladung zum Beitritt zur westlichen Verteidigungsallianz Nato.
Am Ende stellte sich die Frage, warum der Ukrainer überhaupt zum Gipfeltreffen eingeladen wurde. Um Selenskyjs Plan in Gänze umzusetzen, bräuchte es unter anderem in Deutschland einen Kurswechsel, aber Scholz war am Donnerstag klar: „Sie kennen die Haltung Deutschlands in den Fragen, die da berührt sind. Daran wird sich auch nichts ändern.“ Berlin lehnt es zum einen ab, der Ukraine weitreichende Waffensysteme zu liefern, mit denen sie Ziele auf russischem Gebiet angreifen kann. Zum anderen blockiert die Bundesrepublik mit weiteren Staaten den Wunsch nach einer zügigen Einladung in die Nato.
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