Washington. Rückbesinnung oder Absturz? Innehalten oder anheizen? Amerika steht am Tag nach dem versuchten Mordanschlag auf Ex-Präsident Donald Trump noch immer unter Schock. Der republikanische Präsidentschaftskandidat hatte gerade wie so oft bitterlich über den Zustrom von Einwanderern aus Mexiko geklagt, als am Samstagabend kurz nach 18 Uhr in Butler, einer Kleinstadt in Pennsylvania, ein Schuss knallt. Trump fasst sich umgehend an die rechte Gesichtshälfte, zuckt beim zweiten Schuss zusammen und geht beim dritten Knall hinter dem Rednerpult in Deckung.
Binnen Sekunden werfen sich ein halbes Dutzend Secret-Service-Agenten auf den 78-Jährigen, schirmen ihn mit ihren Körpern ab. Panische Schreie im Publikum. Dann keine Schüsse mehr. Die Bodyguards sondieren die Lage. Sie richten Trump auf, der am rechten Ohr blutet. Sie versuchen, ihn in einen Van zu transportieren. „Lasst mich meine Schuhe anziehen“, hört man Trump zwei Mal herrisch sagen. Und kurz danach: „Wartet! Wartet!“ Mit den Armen macht sich Trump Platz. Dann ballt er fast wie ein Hollywood-Schauspieler die rechte Faust und ruft in Richtung der Fernsehkameras drei Mal an seine Anhänger gerichtet: „Kämpft, kämpft, kämpft.“
Historiker wie Douglas Brinkley sehen in Trumps schon jetzt ikonischer Widerstandsfaust mit blutverschmiertem Gesicht eine Parallele zu Theodore Roosevelt. Der damalige US-Präsident erlitt 1912 ebenfalls bei einer Kundgebung einen Schuss in die Brust, redete aber unverdrossen weiter. Tenor: Mich kann nichts erschüttern. So auch hier. Um Haaresbreite kam Trump dem Tod davon. „Es geht mir gut“, sagte er in einer Stellungnahme. In diesem Moment ist der Schütze, ein 20-Jähriger, bereits von Scharfschützen ausgeschaltet worden.
Während sich das Land noch sortiert und verstört über die Folgen und Nebenwirkungen sinniert, versucht Trump, noch ohne jede Schuldzuweisungen, sich den historischen Moment vier Monate vor der Wahl zunutze zu machen. „Es war Gott allein, der das Undenkbare verhindert hat“, schreibt er am Morgen. Und bekräftigt: „Wir werden uns nicht fürchten.“ Glaube und Trotz müssten der „Bösartigkeit“ entgegengestellt werden. Was er meint? Weder wird der an diesem Montag beginnende Nominierungsparteitag in Milwaukee/Wisconsin vertagt oder verkürzt. Noch gibt es antizyklische Aufrufe des Ex-Präsidenten an die eigenen Reihen, den Vorfall bitte nicht auszuschlachten und somit weiter Öl ins Feuer zu gießen. „Es wird jetzt stark auf seinen Ton beim Parteitag ankommen“, sagt ein republikanischer Analyst, der im Vorwahlkampf Nikki Haley unterstützt hat. „Wenn Trump in die Vorwürfe einiger Konservativer einstimmt und die Demokraten, spezifisch Joe Biden, für den Anschlag verantwortlich macht, könnte es ungemütlich werden.“
Republikaner versucht, Biden die Verantwortung zuzuschieben
Hintergrund: Senator J. D. Vance aus Ohio, der sich auch Hoffnungen auf die Vizepräsidentschaftskandidatur macht, wagte sich auf X, wo Besitzer Elon Musk in der Nacht mehrfach mit aufhetzenden Bemerkungen auffiel, sehr weit vor: „Die zentrale Prämisse des Wahlkampfes von Biden ist, dass Präsident Donald Trump ein autoritärer Faschist ist, der um jeden Preis gestoppt werden muss. Diese Rhetorik hat direkt zu dem versuchten Mordanschlag auf Präsident Trump geführt.“
Ähnlich äußerten sich mindestens zwei weitere konservative Kongressabgeordnete. Sie zitierten eine Biden-Formulierung aus den vergangenen Tagen, wonach Trump, der einen Staatsumbau mit fast feudaler Machtfülle plant, „ins Visier“ genommen werden müsse. Biden meinte, dass er und die Demokraten stärker mit klarer Rhetorik den Kontrapunkt zu Trumps Politik-Entwurf herausstellen müssten. Von Gewalt war nie die Rede.
Das Beispiel zeigt, wie entscheidend der Kontext ist, in dem sich der erste Attentatsversuch auf einen absoluten Top-Politiker in den USA seit den Schüssen auf Präsident Ronald Reagan 1981 ereignet hat. Seit Trumps Amtsantritt 2017 ist das nationale Selbstgespräch, dominiert von zwei gleichermaßen Rückhalt und Mitglieder verlierenden Parteien, so toxisch geworden, dass auf der extremen Rechten offen über die Notwendigkeit gesprochen wird, „Patrioten“ müssten zu den Waffen (gegen alles Linke) greifen, um Amerika „zu retten“. Links der politischen Mitte ist das Bürgerkriegsgeraune weitaus leiser.
Trump persönlich hat seine Rhetorik seit der verlorenen Wahl gegen Joe Biden vor vier Jahren extrem radikalisiert. Erst im Mai nahm er Anleihen bei Adolf Hitler und Benito Mussolini. O-Ton: „Wir werden die Kommunisten, Marxisten, Faschisten und linksradikalen Gangster ausrotten, die wie Ungeziefer in den Grenzen unseres Landes leben, die lügen, stehlen und bei Wahlen schummeln.“ Zuvor sagte er, Einwanderer würden das „Blut“ Amerikas „vergiften“. Joe Biden und 99 Prozent der Demokraten haben diese Sichtweise nie kopiert. Der Präsident verurteilte die Gewalt in der Kleinstadt Butler gegen seinen Kontrahenten vehement als „krank“ und nahm ihn in seine Gebete für eine zügige Heilung auf. Am Samstagabend gab es ein Telefonat der beiden, der Inhalt ist bisher unter Verschluss. Die mittel- und langfristigen Konsequenzen des Attentatsversuchs sind „noch überhaupt nicht zu übersehen“, sagt der Journalist David Frum, der früher für George W. Bush Reden schrieb.
Motiv des 20-jährigen Schützen ist noch unklar
Der Secret Service kommt unter schweren Beschuss. Außerdem deutet sich die x-te Debatte über das Für und Wider der laxen Verfügbarkeit von halbautomatischen Sturmgewehren vom Typ AR-15 an. Was dessen Motiv angeht, stellen sich die Ermittler auf zähe Untersuchungen ein. Der Vater des Schützen, der registrierter Republikaner war, hat sich noch nicht erklärt. Ungewiss sind die Auswirkungen auf den Wahlkampf. Kreise im konservativen Spektrum prophezeien, dass Trump nach der Attacke einen „Erdrutschsieg“ hinlegen werde.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Nach den Schüssen auf Donald Trump steht Amerika am Abgrund