Mannheim. Herr Debus, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst stuft die AfD als „gefährliche Nazipartei“ ein. Sehen Sie das auch so?
Marc Debus: Klar ist, dass sich die AfD seit ihrer Gründung 2013 immer mehr radikalisiert hat. Damals war die AfD noch eine wirtschaftsliberale und Euro-kritische Partei. Seit der Flüchtlingskrise 2015 hat die AfD ein rechtspopulistisches Profil entwickelt und fährt in einigen Landesverbänden einen klar rechtsextremen Kurs. Das belegen die Verfassungsschutzberichte und die politikwissenschaftlichen Untersuchungen.
Warum belegt eine Partei, die von der großen Mehrheit der Wähler als gefährlich für die Demokratie eingestuft wird, in Umfragen gegenwärtig den zweiten Platz?
Debus: Die Stärke der AfD speist sich aus einer großen Unzufriedenheit, die sich mit den Jahren entwickelt hat. Ursachen dafür sind die vielen Krisen: Euroschwäche, Flüchtlinge, Klimawandel, Corona, Ukraine-Krieg. Das alles hat zu einem massiven Vertrauensverlust und einer großen Verunsicherung geführt. Dazu kommen noch andere Probleme, deren Wucht nicht so groß wie bei den genannten Krisen ist, die aber die Menschen auch sehr verärgern.
Marc Debus
- Marc Debus wurde 1978 in Biedenkopf (Hessen) geboren.
- Er studierte an den Universitäten in Marburg und Mannheim Politikwissenschaft und Soziologie.
- Debus ist seit 2012 Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Mannheim. Seine Spezialgebiete sind Koalitionstheorien, die politischen Parteien und der Parteienwettbewerb.
Welche denn?
Debus: Zum Beispiel, dass unsere Infrastruktur in einem beklagenswerten Zustand ist und deshalb Brücken jahrelang saniert oder Autobahnen in NRW gesperrt werden . . .
. . . vergessen Sie nicht die Riedbahn, die ab Juli zwischen Frankfurt und Mannheim ein halbes Jahr saniert wird. . .
Debus: . . . ja, dann fehlen Kindergarten- und Betreuungsplätze, all das zusammen frustriert die Menschen. Inzwischen hat der Staat auch nicht mehr so viel Geld in den Kassen. Die Ampel kann deshalb viele ihrer ursprünglich geplanten politischen Vorhaben nicht mehr umsetzen und muss sparen. Die Bauernproteste haben ja gezeigt, wie gefährlich das werden kann.
Die Koalition hat da aber auch keine gute Figur abgegeben.
Debus: Das stimmt. Entscheidend ist aber, dass die Ampel nur noch streitet, solche Regierungen bekommen in aller Regel keine guten Noten von den Wählerinnen und Wählern. Das sehen Sie an den Umfragen, in denen die Ampel seit vielen Monaten bei Weitem keine Mehrheit mehr hat.
Aus dem Politbarometer geht ebenfalls hervor, dass die Mehrheit der Deutschen es auch der Union nicht zutraut, dass sie es an der Regierung besser machen würde.
Debus: Ja, den Unionsparteien ist es nicht gelungen, Anhänger aus dem AfD-Lager zurückzugewinnen, obwohl die CDU unter ihrem neuen Vorsitzenden ihr konservatives Profil geschärft hat.
Zerstrittene Regierungen wie die Ampel werden in der Tat in der Wählerschaft als weniger kompetent wahrgenommen
2019 hat Merz vollmundig versprochen, dass er die AfD halbieren wolle. Dafür, dass das nicht geklappt hat, macht er die Ampel verantwortlich.
Debus: Das ist natürlich nur ein Teil der Wahrheit. Zerstrittene Regierungen wie die Ampel werden in der Tat in der Wählerschaft als weniger kompetent wahrgenommen.
Aber?
Debus: Wir wissen aus der empirischen Forschung auch: Wenn konservative oder zentristische Parteien sich den Positionen oder der Rhetorik rechter Parteien annähern und diese bedienen, nutzt es ihnen selbst nichts, sondern vielmehr den rechtsextremen Parteien.
Beispiel Merz. Der hat einfach behauptet, viele Flüchtlinge kämen zu uns, um sich die Zähne umsonst machen zu lassen, während die Deutschen keinen Termin bekommen würden.
Debus: Mit solchen Äußerungen wollen Politiker wie Merz AfD-Wähler ins eigene Lager zurückholen. Die Forschung belegt, dass das in aller Regel nicht funktioniert. Nicht nur Parteien wie die Union stecken da in einem klassischen Dilemma, das gilt ja auch für Teile der FDP und der SPD. Sie müssen sich alle fragen: Wie schaffen wir es, wichtige Probleme, die sich aus der hohen Zahl der Flüchtlinge ergeben, in den Griff zu bekommen, ohne den radikalen Parteien nach dem Mund zu reden?
Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz, dass Deutschland im großen Stil abschieben will.
Debus: Mit einem solchen plumpen Herantreten an die AfD-Wähler wird Scholz, zu dem eine solche Aussage auch kaum passt, keinen Erfolg haben. Denn die Wähler sind durchaus dazu in der Lage abzuschätzen, wie realistisch dieser Plan ist. Und wenn das nicht gelingt . . .
. . . was wahrscheinlich ist . . .
Debus: . . . wird der Frust größer und Parteien wie die AfD haben dann ein noch leichteres Spiel.
2024 ist ein Superwahljahr. Erst die Europawahl im Juni, dann im September drei Landtagswahlen in Ostdeutschland. Was erwarten Sie da mit Blick auf die AfD?
Debus: Die AfD liegt nach den aktuellen Umfragen in allen drei Bundesländern vorn und könnte überall stärkste Fraktion werden. Das hätte natürlich massive Auswirkungen auf die Regierungsbildung. Denn die wird natürlich schwieriger, je stärker die AfD wird.
Glauben Sie, dass die Brandmauer der CDU hält, sie schließt ja sowohl die Tolerierung als auch eine Koalition mit der AfD aus?
Debus: Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine staatstragende Partei wie die CDU mit einer Partei kooperieren würde, die vom Verfassungsschutz in Teilen als verfassungsfeindlich eingestuft wird.
In den betreffenden CDU-Landesverbänden sehen das vielleicht manche Kräfte anders. Annegret Kramp-Karrenbauer musste ja ihr Amt als Parteichefin aufgeben, weil sie 2020 die unsicheren Kantonisten in Thüringen nicht zur Vernunft bringen konnte.
Debus: Wenn das erneut passieren würde, wäre nicht nur das Ansehen von Merz beschädigt, sondern das der gesamten Partei. Deshalb glaube ich nicht, dass sich eine Krise wie in Thüringen wiederholen würde. Die CDU hätte aber trotzdem ein Riesenproblem, wenn sich die Umfragen in Wahlergebnissen niederschlagen würden.
Verraten Sie es uns bitte.
Debus: Die CDU müsste dann ja mit Parteien links der Mitte koalieren oder kooperieren. Also auch mit den Grünen oder gar den Linken.
Da gibt es ja schon mit den Grünen große Probleme.
Debus: Klar, denken Sie nur an die Integrations- und Flüchtlingspolitik oder auch an die Umwelt-, Landwirtschafts- und Infrastrukturpolitik. Die CDU in Hessen hat nicht ohne Grund die Koalition mit den Grünen nach zehn Jahren beendet und sich lieber die SPD als Partner ausgesucht, weil mit ihr die Schnittmengen größer sind. Mit den Grünen, der SPD und auch noch mit der Linke wäre eine Zusammenarbeit im Osten inhaltlich noch schwieriger, als dies bei den drei Ampel-Parteien im Bund der Fall ist. Das den CDU-Wählern zu verkaufen, dürfte äußerst schwer für die Parteiführung werden.
Die CDU müsste dann auch ihren Nichtvereinbarungsbeschluss mit der Linken aufgeben.
Debus: Ja, aber in der Praxis unterstützt die CDU schon jetzt eine rot-grün-rote Minderheitsregierung in Thüringen. Deshalb glaube ich, dass die CDU sich da zu einer Zusammenarbeit durchringen würde, wenn es nicht anders geht. Aber die ganze Sache wird wahrscheinlich noch komplizierter, denn es spricht viel dafür, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland erfolgreich sein könnte.
Wagenknecht könnte allen Parteien Stimmen abjagen.
Debus: Ja, es könnte aber auch sein, dass Wagenknechts BSW und die AfD zusammen noch stärker werden als die AfD alleine. Es müsste dann vielleicht sogar in manchen ostdeutschen Bundesländern eine Allparteien-Koalition aus CDU, SPD, Grünen. Linke und der FDP geben, falls die alle ins Parlament kommen. Richtig kompliziert würde es, falls AfD und BSW gemeinsam eine Mehrheit in Thüringen bekämen, worauf eine aktuelle Umfrage hindeutet. Dann müssten CDU, Linke, SPD und Grüne noch mit dem BSW kooperieren, wenn denn eine AfD-geführte Regierung in Thüringen verhindert werden soll.
Wenn die AfD überall gewinnt, aber nicht an die Regierung kommt, wird sie dann den Altparteien nicht vorwerfen, dass diese die Demokratie aushebeln würden, weil sie den Wählerwillen missachten?
Debus: Dieses Narrativ pflegt die AfD ja jetzt schon, wie das früher auch die FPÖ in Österreich getan hat. Die Parteien müssen also liefern, sonst wird die AfD immer stärker. Sie müssen den Wählerinnen und Wählern aber auch klar machen, mit wem sie es bei der AfD zu tun haben. Sie ist eben keine harmlose Protestpartei, der man nicht bedenkenlos seine Stimme geben kann, selbst wenn man der Regierung einen Denkzettel verpassen will.
Der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla bestreitet nicht, dass er bei dem Geheimtreffen in Potsdam dabei war. Dort haben ja Rechtsextremisten ihre wahnsinnigen Remigrationspläne diskutiert. Ist es nicht Zeit, die AfD zu verbieten?
Debus: Parteiverbotsverfahren haben aus guten Gründen hohe Hürden, weil Parteien die Interessen der Wählerinnen und Wähler in die politischen Entscheidungsprozesse einspeisen. Sie sind das Scharnier zwischen der Gesellschaft und den politischen Institutionen. Deshalb kann ein solches Verfahren jahrelang dauern. Aber dennoch ist das Verbotsverfahren ein Mittel, das das Grundgesetz vorsieht, um die demokratischen Strukturen gegen Verfassungsfeinde zu verteidigen.
Die Bundesrepublik sollte sich gerade aus der Erfahrung der Weimarer Republik gegen verfassungsfeindliche Parteien zur Wehr setzen
Würden Sie ein solches Verfahren denn befürworten?
Debus: Wenn es genügend Belege für die Verfassungsfeindlichkeit der AfD gibt, natürlich. Ob das bereits der Fall ist, müssen Ihnen vor allem die Juristen beantworten. Die Bundesrepublik sollte sich gerade aus der Erfahrung der Weimarer Republik gegen verfassungsfeindliche Parteien zur Wehr setzen.
Die Experten sind sich allerdings uneins, ob der Gang vor das Bundesverfassungsgericht erfolgversprechend wäre.
Debus: Eben. Deshalb wäre ich da eher vorsichtig. Wenn es schiefgehen würde, hätte die AfD ja sozusagen ein höchstrichterliches Zeugnis für ihre Verfassungstreue.
Ist es für ein Verbotsverfahren nicht schon zu spät, weil die AfD in der Wählergunst so stark ist? Sie könnte ja argumentieren, dass die etablierten Parteien sie nur auf juristischem Weg ausschalten wollen, weil ihnen das mit politischen Mitteln nicht gelingt.
Debus: Ja, wahrscheinlich würde die AfD genauso argumentieren. Und ein Verbot einer Partei würde nichts daran ändern, dass es offenbar einen großen Anteil in der Bevölkerung gibt, der die Positionen der AfD zumindest teilweise ansprechend findt beziehungsweise extrem unzufrieden mit den Regierungsparteien und den anderen Oppositionsparteien ist.
Aber Umfragen sind keine Wahlergebnisse. Da kann sich noch viel tun bis Juni und September. Die Wahlkämpfe haben ja noch nicht begonnen. Und wir wissen, dass die Bindung der Wählerinnen und Wähler an die Parteien sehr locker ist und sich ein immer größerer Anteil der Wählerschaft erst kurz vor dem Wahltermin entscheidet.
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