Berlin. Die Linke hat derzeit keinen guten Lauf, vielleicht sogar den schlechtesten seit ihrer Gründung vor anderthalb Jahrzehnten. Bei der Bundestagswahl im vergangenen September kam die Partei nur noch auf 4,9 Prozent. Lediglich die drei Direktmandate, die die Linke in zwei Berliner und einem Leipziger Wahlkreis errang, verhalfen ihr zum Wiedereinzug und bewahrten sie vor dem Absturz in die bundespolitische Bedeutungslosigkeit.
Doch auch die Folgemonate liefen nicht rund. Gleich drei Landtagswahlen in Folge vergeigte die Linke: In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein schaffte sie es abermals nicht in die Landtage und verschlechterte obendrein ihre Ergebnisse gegenüber vorherigen Wahlen.
Die mit Abstand schmerzhafteste Niederlage erlitt die Partei aber im Saarland, der einzigen Region in Westdeutschland, in der die Linke traditionell stark war und lange Zeit zweistellige Ergebnisse erzielte. Diesmal nicht. Stattdessen erlebte die Partei ein Fiasko an der Saar und rutschte von vormals 12,8 auf 2,6 Prozent ab. Beobachter machten hierfür auch das Verhalten des einstigen Linke-Gründers und Ex-Vorsitzenden Oskar Lafontaine mitverantwortlich. Zehn Tage vor der Wahl im Saarland hatte der 78-Jährige seinen Parteiaustritt erklärt und dies mit Unzufriedenheit über Kurs und Programmatik der Linken begründet. Es war ein schwerer Schlag für die Partei. Doch es folgten weitere.
Im April wurden Vorwürfe laut, wonach es in der hessischen Linkspartei jahrelang zu sexuellen Übergriffen gekommen sein soll. Der Beschuldigte soll ausgerechnet der Ex-Partner der Bundesvorsitzenden Janine Wissler sein, die auch ehemalige Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag ist. In Recherchen des „Spiegel“ ist von verschiedenen Dokumenten mit Hinweisen auf „mutmaßliche Grenzüberschreitungen, Machtmissbrauch und eine toxische Machokultur“ die Rede.
Kurz darauf verkündete die Co-Vorsitzende der Partei, Susanne Hennig-Wellsow, nach nur einem Jahr und zwei Monaten ihren Rücktritt und begründete dies auch mit dem Umgang der Linken mit Sexismus in den eigenen Reihen. „Eklatante Defizite“ seien hierbei zutage getreten. Seither führte Wissler die Partei allein.
Trotz der Vorwürfe und der vielen weiteren Krisen unter ihrer Führung will Wissler auf dem Bundesparteitag am kommenden Wochenende in Erfurt erneut als Vorsitzende antreten. Zugleich soll bei dem dreitägigen Treffen der gesamte Vorstand neu bestimmt und per Satzungsänderung deutlich verkleinert werden. Wissler gilt in den Augen vieler aber als die umstrittenste Personalie.
Viele haben Zweifel
So bezweifeln viele in der Partei, dass die 41-Jährige für einen Neuanfang stehen kann. Vanessa Müller etwa, Landesvorsitzende aus Mecklenburg-Vorpommern, sagte unlängst mit Blick auf die Misshandlungsvorwürfe aus Hessen: „Wie sollen Betroffene ernst nehmen, dass wir es mit der Aufklärung und dem Kampf gegen Sexismus in der Linken ernst meinen, wenn Leute die Partei führen, die selbst in solche Fälle verwickelt sind?“
Wissler hielt dagegen. Der Vorwurf, sie habe Taten oder ihren damaligen Lebensgefährten gedeckt, sei „absurd“. Von ihrer erneuten Kandidatur rückte sie nicht ab.
Generaldebatte zu Vorwürfen
Um die Vorwürfe aufzuarbeiten, steht nun für diesen Freitagabend eine einstündige Generaldebatte mit dem Schwerpunkt „Kampf gegen patriarchale Machtstrukturen, Gewalt und Sexismus“ auf der vorläufigen Tagesordnung des Parteitags. Im Anschluss daran sind ein „Frauenplenum“ und parallel ein „Workshop zu kritischer Männlichkeit“ geplant.
Neben Wissler treten auf dem Linke-Kongress in der Thüringer Landeshauptstadt weitere Kandidatinnen und Kandidaten für die auch künftig vorgesehene Doppelspitze an. Bewerbungen haben der sächsische Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann und der Europaabgeordnete Martin Schirdewan angekündigt sowie die Bundestagsabgeordnete Heidi Reichinnek, die ihren Wahlkreis in Osnabrück hat.
Zudem will die Linke vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs mehrere Leitanträge beschließen. Themen sind unter anderem die europäische Sicherheitspolitik sowie finanzielle Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger. Die ehemalige Fraktionschefin im Bundestag, Sahra Wagenknecht, hält das Treffen dagegen für einen existenziellen Schlüsselmoment in der Geschichte der Linken.
„Ich hoffe sehr, dass uns auf dem Parteitag ein inhaltlicher und personeller Neuanfang gelingt. Es ist wahrscheinlich die letzte Chance für die Linke“, sagte Wagenknecht unserer Redaktion. Zugleich kritisiert Wagenknecht eine Entfremdung der Partei von ihrer Stammwählerschaft. Die Linke habe sich „zu sehr von denjenigen entfernt, für die sie angetreten ist, Politik zu machen“, beklagte sie.
Das seien vor allem Arbeitnehmer und Rentner mit niedrigen und mittleren Einkommen. Mit Blick auf den Ukraine-Krieg betont Wagenknecht, die Linke brauche in diesen Zeiten „mehr Mut, um selbstbewusst auch gegen den Strom zu schwimmen“.
Die Partei dürfe „keinem Zeitgeist hinterherlaufen, der unter Solidarität die Lieferung von Panzern“ verstehe oder „inflationstreibende Sanktionen“, unter denen die Bevölkerung in Deutschland leide, während die Einnahmen des russischen Präsidenten Wladimir Putin sogar stiegen.
Allerdings ist Wagenknecht in der Linken hoch umstritten. Kritiker werfen ihr vor, zu viel Verständnis für die Positionen Moskaus aufzubringen und den russischen Angriff zu relativieren. Debatten über den Ukraine-Krieg dürften auch den Parteitag prägen.
Fest steht schon jetzt: Misslingt in Erfurt der Neustart, hat die Linke weiter eine Krise zu meistern. Vielleicht sogar ihre größte. In bundesweiten Umfragen liegt sie seit Wochen deutlich unter fünf Prozent. Der Wert ist Synonym für politische Bedeutungslosigkeit.
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