Ankara. Politisch war er schon oft totgesagt, doch immer wieder kam er zurück. Auch dieses Mal hat er es geschafft – entgegen der vielen Prognosen, die ihn bereits am Ende sahen. Recep Tayyip Erdogan hat die Stichwahl gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu gewonnen und sich die dritte Amtszeit als Präsident der Türkei gesichert. Seit über 20 Jahren steht er an der Spitze des Landes, zunächst als Premierminister, seit 2014 als Staatschef.
Kein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, dem „Vater der Türken“, hat länger regiert und das Land so stark geprägt wie Erdogan. Aber zugleich hat er die türkische Gesellschaft polarisiert und gespalten wie keiner vor ihm. Noch nie in der 100-jährigen Geschichte der türkischen Republik gab es so viele politische Gefangene wie unter Erdogan. Und noch nie waren die Medien so geknebelt und die Justiz so gegängelt wie das zurzeit der Fall ist.
„Perverse“ und „Terroristen“
In Ankara versammelten sich am Sonntagabend Hunderttausende vor dem Ak Saray, dem prunkvollen Palast Erdogans. Erdogan schlug vor seinen jubelnden Anhängern zunächst versöhnliche Töne an: „Heute hat niemand verloren“, erklärte er, die Demokratie habe gesiegt. Viele Menschen breiteten türkische Fahnen auf dem Rasen aus und knieten zum Gebet nieder. Alle 85 Millionen Türkinnen und Türken hätten gewonnen, sagte Erdogan. Zugleich aber bezeichnete Erdogan die Opposition als „Terroristen“.
Das lässt in Zukunft eine noch härtere Gangart gegen politische Gegner und Kritiker der Regierung erwarten. Bürgerrechtler wie der seit sechs Jahren inhaftierte Mäzen Osman Kavala und der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas, der seit 2016 im Gefängnis sitzt, können nicht damit rechnen, in Freiheit zu kommen – obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihre Freilassung angeordnet hat.
Auch auf die türkischen Frauen und Mädchen kommen weitere Einschränkungen ihrer Rechte zu. Die Regierung will ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt abschaffen, weil es „Familien zerstört“. Schwere Zeiten kommen auch auf Schwule, Lesben und Transmenschen in der Türkei zu. Erdogan bezeichnete sie im Wahlkampf als „Perverse“, denen er „eine Lektion erteilen“ werde.
Erdogan wurde bei der Wahl von der ultranationalistischen Partei MHP, der politischen Heimat der berüchtigten Grauen Wölfe, und von mehreren islamistischen und rechtsextremen Splittergruppen unterstützt. Das Ergebnis der Stichwahl bestätigte einen Trend, der sich schon zwei Wochen zuvor bei der Parlamentswahl gezeigt hatte: Die Türkei erlebt einen massiven Rechtsruck. Noch nie zuvor saßen so viele rechtsextreme und nationalistische Politiker in einem türkischen Parlament.
Einstiger Hoffnungsträger
Als Erdogan im November 2002 seine erste Parlamentswahl gewann, sahen viele in ihm einen Hoffnungsträger. Die Türkei begann sich damals gerade von der schwersten Finanzkrise ihrer jüngeren Geschichte zu erholen. Während der Erdbebenkatastrophe im Sommer 1999 hatten Staat und Politiker total versagt. Die Türkei erlebte Anfang der 2000er-Jahre ein Wirtschaftswunder: Im ersten Erdogan-Jahrzehnt verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen. Erdogans Popularität gründet sich bis heute auf die Erfolge dieser ersten Regierungsjahre. Er gilt als Vater des türkischen Aufschwungs.
Das Jahr 2016 ist ein Einschnitt in Erdogans Schwenk zur Autokratie. Der Putschversuch im Juli lieferte dem Präsidenten den Anlass für eine beispiellose Welle von „Säuberungen“: Mehr als 130 000 Beamte wurden wegen angeblicher Gülen-Verbindungen entlassen, Zehntausende Erdogan-Gegner kamen hinter Gitter. Hunderte Publikationen wurden verboten. Heute kontrollieren Erdogan nahe stehende Unternehmer mehr als 90 Prozent der türkischen Medien. Mit einer Verfassungsänderung sicherte sich Erdogan 2017 eine Machtfülle, wie sie kein anderer westlicher Staats- oder Regierungschef besitzt.
Mindestens bis 2028 wird Erdogan an der Staatsspitze stehen. Nach der Verfassung muss ein Präsident nach zwei Amtsperioden ausscheiden. Erdogan tritt nun bereits die dritte an. Westliche Beobachter in Ankara schließen nicht aus, dass Erdogan versuchen wird, die Verfassung zu ändern, um sich die lebenslange Herrschaft zu sichern.
Deutschland und die EU tun gut daran, sich auf eine neue Eiszeit einzustellen. Ob die Türkei Schwedens Mitgliedschaft im westlichen Bündnis noch vor dem Nato-Gipfel Mitte Juli zustimmen wird, gilt als zweifelhaft. Die Türkei steckt in der schwersten Währungskrise seit 22 Jahren. Die Lira fiel am Montag auf ein neues Tief zum Dollar und zum Euro. Das Land kann sich nur dank Finanzspritzen aus Russland und den Golfstaaten über Wasser halten. Beobachter erwarten, dass Erdogan deshalb auch künftig die Nähe des Kremlchefs Wladimir Putin suchen wird. In der Flüchtlingsfrage hat er jederzeit einen Hebel in der Hand, um Europa unter Druck zu setzen. Rund vier Millionen Migranten hat die Türkei in den letzten Jahren aufgenommen. Wenn Erdogan „die Tore aufmacht“, wie er es immer wieder angedroht hat, dürften sich viele auf den Weg nach Europa machen. Das Verhältnis zwischen Deutschland, der EU und der Türkei wird jetzt noch schwieriger.
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