Dnipro. An einem Abend im Dezember 2021 sitzt die Familie Zhuchenko zusammen in ihrer schlichten, kleinen Wohnung im dritten Stock eines Plattenbaus in Popasna. Olga, ihr Lebensgefährte Maksim, die drei Kinder, ihre Mutter, die alte Nachbarin. Sie essen, trinken, lachen, spielen Karten. Niemand ahnt etwas von dem Grauen, das ihnen bevorsteht. Sie verabschieden sich an diesem Abend von Danylo, dem ältesten Sohn, der sich bei der Nationalgarde verpflichtet hat. Er soll am Tag darauf seinen Dienst in Mariupol beginnen.
Popasna ist eine Kleinstadt in der Region Luhansk im Osten der Ukraine. Grau, unscheinbar, aber strategisch wichtig, weil sie ein Eisenbahnknotenpunkt ist. 2014 wird Popasna zum ersten Mal Kriegsschauplatz. Von Russland unterstützte Separatisten der sogenannten Volksrepublik Luhansk nehmen die Stadt ein, wenige Wochen später bringen ukrainische Streitkräfte sie wieder unter ihre Kontrolle. In den Jahren danach trifft Popasna immer wieder Artilleriebeschuss.
Olga Zhuchenko und ihr Lebensgefährte Maksim Alexandrow versuchen trotzdem, hier ein normales Leben zu führen. Die drei Kinder stammen aus einer früheren Beziehung Olgas. Der älteste Sohn Danylo verbringt viel Zeit mit Videospielen, er träumt davon, Programmierer zu werden. Dafür reicht das Geld nicht. Also wird er Schweißer, dann meldet er sich freiwillig zur Nationalgarde, einer Art Militärpolizei, um Geld für ein Studium zu verdienen. Er ist 20 Jahre alt, als er seinen Dienst antritt. Ausgerechnet in Mariupol, der Hafenstadt am Asowschen Meer, die wie Butscha zu einem Synonym der Brutalität des Krieges werden soll.
Olgas Arm wird zertrümmert
Anfang April dieses Jahres ist die heile Welt der Familie zersplittert. Etwas mehr als einen Monat zuvor haben die russischen Streitkräfte die Ukraine überfallen. Popasna ist zu einer Ruinenlandschaft zerschossen. Wir treffen Olga Zhuchenko in einem Krankenhaus in Lwiw ganz im Westen des Landes. Sie liegt auf einem Sechs-Bett-Zimmer, ihr schmales Gesicht ist so weiß wie die Laken, ihr rechter Arm ist zertrümmert, das Rückenmark beschädigt. Am 7. März ist morgens um 10.40 Uhr eine Granate auf dem Balkon ihrer Wohnung explodiert. Neyla, die 82-jährige Nachbarin, mit der sie zusammen im Dezember noch gefeiert hat, stirbt. Olga überlebt mit schwersten Verletzungen. „Es ist ein Wahnsinn, was gerade passiert. Es gibt so viele Tote“, sagt sie. Sie sagt auch: „Brüdervölker sollten sich nicht bekämpfen.“ Ihre ältere Schwester lebt in Russland.
Olga macht sich Sorgen um Danylo. In Mariupol toben heftige Gefechte, sie hat seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar nichts mehr von ihm gehört. Ihre Sorgen sind berechtigt. Danylo erlebt ein Martyrium. Davon erzählt er im Dezember dieses Jahres, als wir ihn in Dnipro treffen, im Südosten des Landes. Dort lebt er in einem Wohnheim für verwundete Soldaten. Danylo hat ein junges Gesicht, aber uralte Augen. Er hat fürchterliche Dinge gesehen. Eigentlich werden Nationalgardisten wie er für die Bewachung wichtiger Gebäude eingesetzt. Als die russischen Streitkräfte Mariupol einkesseln und immer tiefer in die Stadt vordringen, muss auch Danylo kämpfen. Er sagt, er habe in den Gefechten keine Angst gehabt. „Der Feind schießt auf dich, du schießt auf ihn. Du denkst nicht darüber nach, ob du tötest. Du bist voller Adrenalin.“
Am 10. April schlägt sich Danylo mit einer kleinen Gruppe zum Asow-Stahlwerk durch, in dessen Eingeweiden zahllose mehrstöckige Bunker sind. Das Stahlwerk am Hafen Mariupols wird zur letzten Bastion der Verteidiger – Nationalgardisten, Marine-Infanteristen, Grenzsoldaten, Soldaten der Territorialverteidigung, Kämpfer des berüchtigten Asow-Bataillons. Die russischen Streitkräfte bombardieren den Industriekomplex unaufhörlich. Ein Scharfschütze tötet Kibalko, den besten Freund von Danylo, er ist 18. „Da habe ich angefangen, sie zu hassen“, sagt der junge Mann unbewegt.
Am 23. April wird Danylo früh morgens selbst verletzt, eine Drohne wirft einen Sprengsatz ab. „Ich habe meine Beine nicht mehr gespürt. Ich hatte mein Sturmgewehr in der Hand, habe auf mein Gesicht gezielt und heruntergeschaut, ob die Beine noch da sind. Wenn sie weg gewesen wären, hätte ich abgedrückt, ich wollte nicht verbluten.“ Die Beine sind noch da, sie sind aber kaputt, das rechte kann er nicht benutzen. Danylo schleppt sich zum Feldlazarett im Zhelezyaka-Bunker. Dort liegt er wochenlang. Die Ärzte operieren Verwundete direkt im Krankensaal, nachdem der OP-Trakt zerstört worden ist. Danylo liegt keine fünf Meter vom Operationstisch entfernt. „Ich habe die Geräusche gehört, als sie Gliedmaßen mit einer normalen Metallsäge abgetrennt haben. Ich habe die Säcke gesehen, in denen sie die Arme und Beine herausgetragen haben.“ Leichengeruch wabert durch die Krankenstation. „Irgendwann habe ich mir den Tod gewünscht. Wir haben alle für einen schmerzlosen Tod gebetet.“
Mitte Mai ist es schließlich vorbei. Mariupol ist gefallen. Danylo und die anderen Verteidiger des Asow-Stahlwerks gehen in russische Kriegsgefangenschaft. Es ist eine Odyssee durch verschiedene Lager. In manchen werden sie gut behandelt. In einem Krankenhaus bei Donezk sind es Zivilisten, die aggressiv sind. Ein anderes Lager, Olenivka, in das Danylo im Juli verlegt wird, ist völlig überbelegt. Dort gibt es einen Folterbereich, in dem ein Sadist das Kommando hat. „Sein Name war Kiryusha. Er zog Menschen nackt aus, zwang sie, auf dem Boden zu kriechen, band ein Seil um ihre Genitalien und zog daran.“ Am 2. November kommt Danylo im Zuge eines Gefangenenaustauschs frei. Am Tag danach telefoniert er mit seiner Mutter.
„Wir kämpfen gegen Putin“
Olga sitzt in einem Hotel in Hannover, in dem Flüchtlinge untergebracht sind. Sie ist zur Behandlung nach Deutschland gekommen. „Die Ärzte haben gehofft, sie könnten meine Knochen mit einem 3-D-Drucker rekonstruieren“, erzählt sie. Die zierliche Frau mit den kurzen Haaren war monatelang in einer Reha-Einrichtung in Hessisch-Oldendorf. „Da haben sie Abmessungen für eine Prothese gemacht.“ Die Prothese hat sie nicht bekommen. Das zuständige Sozialamt wollte sie nicht finanzieren. Moralische Unterstützung leistet ihr Lebensgefährte Maksim, der in einem Dorf in der Nähe von Kiew in einem heruntergekommenen Haus lebt. Er versucht seit Monaten, nach Deutschland zu kommen, erhält aber von den ukrainischen Behörden keine Papiere. „Wir telefonieren jeden Tag“, sagt Olga. „Mein Mann ist für mich der beste Psychotherapeut.“ Sie verspüre keinen Hass gegen Russen, „wir kämpfen gegen Putin und gegen sein System“. Sie sagt auch, sie wolle wieder nach Popasna zurück. Aber erst, wenn es wieder ukrainisch ist.
Danylo hat immer noch Probleme mit seinem rechten Bein, er hinkt stark. Trotzdem will er bei der Nationalgarde bleiben. In Dnipro trägt er bereits eine neue Uniform. „Manchmal träume ich vom Asow-Stahlwerk“, sagt er. In diesen Träumen gewinnt er immer.
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