Es ist wie ein Wunder. In den Wänden und der Tür der kleinen Kirche klaffen zahllose Löcher von den scharfkantigen, schweren Schrapnellen. Die Wand des Taufraums ist zertrümmert. Aber die Ikonen in dem dunklen, gewölbten Innenraum sind verschont geblieben. Vater Viktor Vasilyevich Kravchuk steht vor einem der Heiligenbilder, staunend, als könne er es noch immer nicht glauben, dass sein Gotteshaus nicht wie so viele andere Gebäude in Possad-Pokrowske völlig zerstört wurde, als der Krieg sein kleines Dorf in Schutt und Asche legte. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit empfangen“, sagt er. Sein Atem wird zu einer weißen Wolke.
Possad-Pokrowske ist ein Straßendorf zwischen Cherson und Mykolajiw. Etwa 2400 Menschen lebten hier vor dem Beginn der russischen Invasion links und rechts der M14, viele von ihnen in einfachen, einstöckigen und gartenumsäumten Häusern, die sich in der kargen Steppenlandschaft verlieren.
Im vergangenen März verschanzen sich russischen Truppen auf einer östlich gelegenen Anhöhe, sie nutzen ein offenes Kanalsystem, um ihre Panzer und Haubitzen zu schützen. Im Dorf beziehen ukrainische Soldaten ihre Positionen. Dann beginnt ein monatelanger Kampf. Hunderte Geschosse schlagen täglich in Possad-Pokrowske ein. In den ersten Wochen harren viele der Einwohner in Kellern aus, dann fliehen die meisten. Zwischen 30 und 40 bleiben, nicht alle überleben. Das Dort beklagt 15 Tote.
Zurück bleibt ein zerstörtes Dorf
Im November ziehen sich die russischen Streitkräfte zurück. In Possad-Pokrowske bleiben Ruinen. Die Schule, der Kindergarten, das große Kulturzentrum, die drei Tankstellen, die Speiseölfabrik, fast alle Häuser sind zerstört. Wenige Wochen später besuchen wir das Dorf zum ersten Mal. Es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser, kein Gas, von den Gefechten sind viele Blindgänger zurückgeblieben. Possad-Pokrowske ist ein lebensfeindlicher Ort, und doch sind manche der Einwohner zurückgekehrt.
An der kleinen hellblauen Kirche vor dem Friedhof treffen wir Vater Viktor, er begutachtet die Schäden an dem unscheinbaren Gotteshaus, dessen Zwiebelturm nicht vergoldet ist wie in anderen, reicheren Dörfern. Der Priester ist ein kräftiger Mann, 61, er trägt das Haar lang und hat einen Rauschebart, so wie es bei orthodoxen Geistlichen üblich ist. Über seine Arbeitskleidung hat er eine Flecktarnjacke angezogen.
Vater Viktor ist seit fast drei Jahrzehnten der Geistliche von Possad-Pokrowske. In den vergangenen Jahren war seine Kirche nicht sonderlich gut besucht, zu den Gottesdiensten kamen meist nicht mehr als 30 der Dorfbewohner.
Krieg stellt Glauben auf die Probe
Der Krieg hat seinen Glauben auf die Probe gestellt, erzählt der Priester. „Aber dann, Gott sei Dank, wurde mir klar, dass der Herr uns nicht mehr Sorgen bereitet, als wir ertragen können.“ Er sagt auch, die Dorfbewohner hätten um Gottes Hilfe gefleht, als die ersten Geschosse in Possad-Pokrowske einschlugen. „Sie haben mir gesagt, dass sie zu Gott beteten, wenn es schreckliche Explosionen gab. Wer im Keller saß, hat zu Gott gebetet.“ Mitte März flieht Vater Viktor mit den meisten Bewohnern ins gut 500 Kilometer weiter nordwestlich gelegene Winnyzja.
Diejenigen, die trotz der Kämpfe all die Monate im Dorf geblieben sind, erzählen von den Schrecken, von den Entbehrungen, von den Toten. Sie berichten auch von einem jungen Mann, der sie all die Monate versorgt hat, der immer wieder die gut 220 Kilometer nach Odessa gefahren ist, um dort Lebensmittel, Medikamente und andere Hilfsgüter für sie zu organisieren: Oleh Dolholutskyi. Wir treffen ihn beim Haus seiner Mutter Olga. Er repariert mit Freunden das zerstörte Dach. Dolholutskyi ist 38, hat stahlblaue Augen, trägt eine Baseballkappe.
Er ist kein Mann großer Worte. Im April, erzählt er, sei er ins Dorf zurückgekommen, um dort eine Tasche mit Dokumenten und Bargeld zu holen, die er bei der Flucht vergessen hatte. „Ich habe gesehen, dass Leute geblieben sind, und ich wollte ihnen helfen.“
Hilfsorganisationen steuern das Dorf während der Kämpfe nicht an, es ist einfach zu gefährlich. Also fährt Dolholutskyi, bringt seinen Leuten immer wieder, was sie zum Überleben brauchen. Sein Auto steht neben seinem Haus auf der anderen Straßenseite, es ist voller Einschusslöcher, die Windschutzscheibe ist zertrümmert. Wir sind tief beeindruckt von seinem Mut und vom Durchhaltewillen der Bevölkerung und versprechen, wiederzukommen, das Dorf zu unterstützen. Dolholutskyi lächelt müde. Er kennt die Versprechen.
Im Dorf wohnt auch Victoria Kyrilenko, 45. Als wir sie treffen, ist sie dick eingemummelt, wie andere Dorfbewohner auch. Es ist bitterkalt geworden. „Wir sind vor einem Monat zurückgekommen“, erzählt sie. Und dass der Alltag im Dorf schwierig sei, so zerstört wie es ist. „Wir versuchen in den Ruinen aufzuräumen, können aber nur arbeiten, bis es dunkel wird. Dann sitzen wir bei Kerzenlicht und heizen unseren Ofen mit dem Holz aus den Trümmern. Auf dem Ofen kochen wir auch.“
Demnächst soll ein Bautrupp ins Dorf kommen, um die Bewohner zu unterstützen, hat Kyrilenko gehört. „Wir bereiten uns jetzt darauf vor, diese Menschen morgens und nachmittags mit Essen zu versorgen. Wir sammeln Geschirr ein und säubern Räumlichkeiten, in denen sie sich ausruhen können.“
Als es bereits dunkel geworden ist, sitzt Oleh Dolholutskyi in der Küche eines Freundes. Draußen brummelt ein Generator, auf dem Herd brodelt ein Topf mit Borschtsch. Der 38-Jährige wirkt entspannter. Ein Hilfstransporter hat zuvor das kleine Dorf erreicht und die Bewohner mit dem Notwendigsten versorgt, neben Essen, Kleidung, Medikamenten auch Solarlampen sowie große und kleine Generatoren.
Pläne für die Zukunft
Nach einem Wodka sagt Dolholutskyi: „Ich habe auch darüber nachgedacht, nach Odessa zu gehen und dort zu bleiben.“ Irgendetwas halte ihn aber davon ab. „Ich glaube, dass hier etwas wiederhergestellt werden kann und es möglich ist, es noch besser zu machen, als es war.“ Dass heute ein Hilfstransporter die Stadt erreicht hat, sei ein Signal der Hoffnung für ihn und die anderen Dorfbewohner.
Dolholutskyi hat Pläne. Er will mit den anderen Bewohnern und einem der großen Generatoren die Wasserversorgung wieder in Gang bringen. Kleinere Generatoren sollen so verteilt werden, dass sie für die Menschen gut erreichbar sind, um dort ihre Powerbanks aufzuladen. Mit Solarleuchten sollen dunkle Straßen erhellt werden. Vielleicht, sinniert er, werden sie auch das neue Jahr und am 6. Januar Weihnachten feiern. „Wir haben noch einen Weihnachtsbaum. Er hat überlebt, obwohl rund um ihn Granaten eingeschlagen sind.“
Eine Woche später schickt Dolholutskyi ein Video, in dem eine der leuchtenden Solarlampen zu sehen ist. Das Dorf ist ein bisschen heller geworden.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/politik_artikel,-politik-hoffnung-im-dorf-der-ueberlebenden-_arid,2033688.html