Ankara. Noch steht die ganze Türkei im Bann der Jahrhundertkatastrophe, die mit der Erdbebenserie vor zehn Tagen über das Land hereinbrach. Es wird Wochen, vielleicht Monate dauern, bis die Bergungsmannschaften alle Toten unter den Ruinen ausgegraben haben. Aber eine Frage wird immer dringender: Können unter diesen Umständen Wahlen stattfinden? In der Katastrophenregion ist ein geordneter Urnengang kaum vorstellbar. Das betroffene Gebiet umfasst zehn Provinzen mit 13,5 Millionen Einwohnern. Auf die Region entfallen 85 der 600 Parlamentsmandate.
Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat sich seit dem Beben zum Thema nicht geäußert. Kurz vor der Katastrophe nannte er den 14. Mai als Wahltermin. Aber mit der Katastrophe haben sich die politischen Voraussetzungen für ihn radikal verändert, und zwar zum Negativen. Schon seit Monaten verzeichnete die Regierungspartei AKP wegen der desolaten Wirtschaftslage schlechte Umfragewerte. Die Mehrheit der AKP im Parlament schien in Gefahr, Erdogans Wiederwahl ungewiss. Das gilt seit dem Erdbeben erst recht. Wegen des chaotischen Krisenmanagements kommt die Regierung unter Druck.
Verfassungsänderung nötig
Bülent Arinc, ein früherer Vizepremier und immer noch einflussreicher Politiker in der Regierungspartei AKP, forderte: „Die Wahlen müssen verschoben werden, das ist eine Notwendigkeit.“ Arinc deutete als möglichen neuen Wahltermin das Frühjahr 2024 an. Eine Verschiebung bis zum Frühjahr 2024 würde zu dem Zeitplan passen, den Erdogan jetzt verkündete: Die Regierung werde unverzüglich mit dem Aufbau von 30 000 Gebäuden beginnen. In nur einem Jahr solle der Wiederaufbau abgeschlossen sein. Den Urnengang bis dahin zu verschieben, ist rechtlich eigentlich nicht möglich. Laut Artikel 78 der Verfassung müsste spätestens am 18. Juni gewählt werden. Dann enden die Legislaturperiode und Erdogans Amtszeit.
Theoretisch könnte das Parlament zwar den Verfassungsartikel 78 so abändern, dass eine Verschiebung der Wahl möglich wird. Das ginge aber nur mit einer Zweidrittelmehrheit von 400 Stimmen. Die Regierung verfügt indes nur über 335 Mandate. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu lehnt eine Verfassungsänderung ab. „Die Wahlen finden pünktlich statt“, erklärte er.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Erdogans Risiko