Berlin. Es liegt an den baulichen Gegebenheiten, dass Ehrengäste im Berliner Olympiastadion ziemlich weit weg vom Geschehen sitzen. Doch schon Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Herbst 2010 mal Wege gefunden, in den weitläufigen Katakomben in die deutsche Kabine zu gelangen, um ein Foto mit Mesut Özil entstehen zu lassen. Rückblickend ist der erhoffte Effekt der deutsch-türkischen Verständigung ausgeblieben – inzwischen ist der Weltmeister eng verbandelt mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und auf seiner Brust prangt ein Wolf. Das belegt ein von ihm gepostetes Foto auf Instagram beim Krafttraining in Istanbul. Was der ehemalige deutsche Nationalspieler auf der Haut zeigt, trägt Merih Demiral im Herzen, wie dieses Turnier nach seinem „Wolfsgruß“ als Jubelgeste im EM-Achtelfinale gegen Österreich (2:0) weiß.
Das Viertelfinale gegen die Niederlande in Berlin (Samstag 21 Uhr/ RTL und Magenta TV) wird der Innenverteidiger allerdings wegen dieser Zeichen verpassen. Die Europäische Fußball-Union (Uefa) sperrte den Matchwinner aus Leipzig am Freitag für zwei Spiele. Der 26-Jährige habe „die allgemeinen Verhaltensgrundsätze nicht eingehalten, die grundlegenden Regeln des guten Benehmens verletzt, Sportereignisse für Kundgebungen nicht-sportlicher Art genutzt und den Fußballsport in Verruf gebracht“, hieß es in der Urteilsbegründung.
Der türkische Fußball-Verband (TFF) wollte noch am selben Tag vor den Internationalen Sportgerichtshof Cas ziehen. Doch das ist bei einer Sperre bis zu zwei Spielen gemäß Artikel 63.1.b der UEFA-Statuten nicht möglich. Türkische Medien schäumten vor Wut und sprachen von „Rassismus“. Der türkische Sportminister Osman Askin Bak wetterte über eine ungerechte Entscheidung: „Sie hat keinerlei rechtliche Grundlage und wir sehen sie als rein politisch an.“
Auch in der in Deutschland lebenden türkischen Community soll großes Unverständnis herrschen. Wer sich als „Grauer Wolf“ outet, steht politisch zwar am rechten Rand, weil es eben das Zeichen der rechtsextremen Ülkücu-Bewegung ist, aber ihre Vertreter gehören zum Regierungsbündnis. Am Bosporus ist die ultranationalistische MHP ihre politische Vertretung und Bündnispartnerin der islamisch-konservativen AKP. Erdogan reagierte empört. „Sagt jemand etwas darüber, dass auf den Trikots der Deutschen ein Adler ist? Sagt jemand etwas darüber, dass auf den Trikots der Franzosen ein Hahn ist und warum sie sich wie Hähne aufspielen?“, erklärte der 70-Jährige laut der Nachrichtenagentur Anadolu.
Spielort Berlin macht die Causa Demiral noch brisanter
Am Vortag war durchgesickert, dass der autokratisch regierende Herrscher höchstpersönlich zu dem laut Polizei „Nonplusultra-Hochrisikospiel“ reist, um seiner Nationalmannschaft beizustehen, die sich von der UEFA und dem Gastgeber schlecht behandelt fühlt. Auf einmal ist diese EM hochpolitisch geworden. Der Spielort macht die ganze Causa noch brisanter, wo die große türkische Gemeinde erst im Frühjahr für eine Heimspielatmosphäre beim Länderspiel gegen Deutschland (3:2) gesorgt hatte
Demiral hatte sich vergangenen Montag am „Wolf im Schafspelz“ zu erkennen gegeben, der gar nichts Anstößiges an seinen geformten Finger fand. „Es geht ums Türkentum“, erklärte er mit Unschuldsmiene. „Ich hoffe, ich werden noch mehr Gelegenheiten haben, die Geste zu machen.“ Dem ist allerdings nicht so. Sollte die Türkei wie bei der EM 2008 das Halbfinale erreichen – Gegner in Basel war die deutsche Nationalelf – dann würde der nun vielfach als Märtyrer betrachtete 1,92-Meter-Hüne auch noch fehlen.
Ohne seine Kopfballstärke entsteht gegen die offensivstarke Elftal in der Defensive eine Lücke. Der inzwischen für Al-Ahli in Saudi-Arabien spielende Demiral war mit Torwart Mert Günok der Fels in der Brandung. Der nach seiner Sperre tatendurstige Kapitän Hakan Calhanoglu hatte beide hinterher in die Mitte eines Kreises gebeten, wo das Duo die Jubelarien mit infernalischer Unterstützung ihrer Landsleute anleiteten. Diese „Türkiyee“-Choräle dürften nun auch durchs Olympiastadion schwappen – wie viele „Wolfsgrüße“ vielleicht als Protest dazukommen, kann niemand seriös vorhersagen.
Vielleicht ist zur Beruhigung der aufgebrachten Gemüter ganz gut, dass ein Ausländer auf der türkischen Trainerbank sitzt. Denn einer muss ja noch den Fokus behalten. Der lässig wirkende Nationalcoach Vincenzo Montella muss nun vermutlich keine besondere Ansprache tätigen, um die Motivation auf ein Maximum zu schrauben. Eher wird es darum gehen, dass sein Ensemble einen Weg findet, die Störgeräusche in Leistung umzuwandeln.
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