Weltmeister? Timo Kastening will auf keinen Fall sagen, dass er diesen Triumph den deutschen Handballern nicht zutraut. Aber zu sehr in die Offensive gehen, das will der Rechtsaußen von Bundesliga-Spitzenreiter MT Melsungen dann auch irgendwie vermeiden. Weshalb der ebenso wortgewandte wie smarte Kastening eine Antwort findet, die ihm alles offenlässt.
Beim Thema WM-Gold habe er „immer sofort die dänische oder französische Nationalmannschaft im Kopf“, sagt der 29-Jährige, für dessen Gedanken es stichhaltige Beweise gibt. Sieben der letzten acht WM-Titel gingen an diese beiden Nationen. Nur 2013 kamen die Spanier dazwischen. Ansonsten regieren die zwei Handball-Großmächte. Sie dominieren sogar. Weshalb Kastening auch einen Vergleich mit den Seriensiegern scheut: „Wenn wir sehen, über welchen Zeitraum sie dieses Selbstverständnis und diese individuelle Qualität gepaart mit der Mannschaftsstärke zeigen - da sind wir noch recht weit weg von einem WM-Titel.“
„Diese Mannschaft gehört weltweit zu den talentiertesten“
Zum kleinen Kreis der Mannschaften, die den beiden Topfavoriten bei der an diesem Dienstag beginnenden WM in Kroatien, Dänemark und Norwegen gefährlich werden kann, zählt allerdings die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB). Europameister Frankreich bezwang das Team von Bundestrainer Alfred Gislason vor wenigen Monaten in einem spektakulären Olympia-Viertelfinale.
Zwar verloren die Deutschen nach einem Halbfinalerfolg über Spanien das anschließende Endspiel gegen Dänemark deutlich. Doch im EM-Halbfinale vor einem Jahr hatte das DHB-Team die Skandinavier in einem lange Zeit ausgeglichenen Duell am Rande eine Niederlage. Immerhin.
Coups wie der gegen Frankreich bei Olympia sind noch eher die Ausnahme
Was Kastening und allen anderen beim DHB Hoffnung macht, ist der Faktor Zeit. Gislason hat ein sehr junges Team zusammengestellt, „das in den nächsten Jahren immer besser wird, wenn es normal läuft“, verbreitet der Bundestrainer Zuversicht. Er legt sich sogar fest: „Diese Mannschaft gehört weltweit zu den talentiertesten.“ In seinen Worten schwingt ein gewisser Stolz mit. Vor allem aber ist es ein Satz, der eine gewisse Bedeutung hat. Denn für Euphorie und Lobeshymnen ist der Isländer eigentlich nicht bekannt. Doch er scheint sich sicher zu sein.
WM-Kader
- Tor: David Späth (Rhein-Neckar Löwen), Andreas Wolff (THW Kiel).
- Linksaußen: Rune Dahmke (THW Kiel), Lukas Mertens (SC Magdeburg).
- Rechtsaußen: Timo Kastening (MT Melsungen), Lukas Zerbe (THW Kiel).
- Kreis: Justus Fischer (TSV Hannover-Burgdorf), Johannes Golla (SG Flensburg-Handewitt).
- Rückraum links: Marko Grgic (ThSV Eisenach), Lukas Stutzke (TSV Hannover-Burgdorf), Julian Köster (VfL Gummersbach).
- Rückraum rechts: Franz Semper (SC DHfK Leipzig), Renars Uscins (TSV Hannover-Burgdorf), Christoph Steinert (HC Erlangen).
- Rückraum Mitte: Juri Knorr (Rhein-Neckar Löwen), Nils Lichtlein (Füchse Berlin), Luca Witzke (SC DHfK Leipzig).
Kastening nennt es „Weltmeisterpotenzial“, das in diesem Kader stecke, weil das Team mit dieser Altersstruktur „über Jahre wachsen“ könne: „Weltmeister zu werden, ist immer eine Entwicklungsfrage.“ Für ihn steht außer Frage, dass der EM-Vierte schon jetzt „in einem einzelnen Spiel jeden Gegner schlagen“ könne. So wie die Franzosen bei den Olympischen Spielen. Doch noch sei solch ein Coup eher so etwas eine Ausnahme, weshalb er von „Wahrscheinlichkeiten“ spricht.
Das Team leistet sich keine Ausreißer nach unten mehr
Momentan, glaubt der 29-Jährige, würde die deutsche Mannschaft „acht von zehn Spielen“ gegen Dänemark verlieren: „Unser Ziel muss es sein, dass wir irgendwann ein ausgeglichenes Verhältnis hinbekommen - und dann kann man ernsthaft über beständiges Goldanspruchsdenken reden. Davon sind wir jetzt allerdings noch ein gutes Stück entfernt.“ Vor allem auch gedanklich. Zumindest Gislason.
„Unser erstes Finale ist erst einmal das Eröffnungsspiel“, sagt der 65-Jährige vor der Auftaktpartie am Mittwoch (20.30 Uhr) gegen Polen. Es folgen die Duelle mit der Schweiz am Freitag (20.30 Uhr) und mit Tschechien am Sonntag (18 Uhr). Gewiss: Alle drei Vorrundengegner können keinesfalls im Vorbeigehen besiegt werden. Doch im Normalfall gewinnen die Deutschen dreimal. Und seit dem Vorjahr gibt es den Normalfall beim DHB-Team ziemlich oft. Es leistet sich keine Ausrutscher nach unten, sehr wohl aber welche nach oben. Das macht Mut - und verleiht Selbstvertrauen.
Gruppensieg in der Vorrunde ist das erste Ziel
„Das Ziel ist natürlich, die Gruppe zu gewinnen. Ich schätze uns als die stärkste Mannschaft ein. Das klingt vielleicht arrogant, aber das ist aus meiner Sicht so“, unterstreicht Gislason die Ambitionen seines Teams, das mittlerweile ein anderes Selbstverständnis an den Tag legt - wofür es einen guten Grund gibt. Seit dem magischen Olympia-Sommer ahnt es nicht mehr nur, dass es einen großen Gegner schlagen kann. Mittlerweile wissen die Deutschen das. Sie haben es in Paris und Lille gezeigt. Und zwar mehrfach. Als Wiederholungstäter. Die Sommerspiele waren also ein Schlüsselmoment.
Gislason bezeichnet die in Frankreich gesammelten Erfahrungen als „Aha-Erlebnis“. Er habe einigen Spieler förmlich dabei zusehen können, wie sie ihren Wissensdurst stillten und anschließend an ihren Aufgaben wuchsen: „Die haben sich gesagt: ,Was mein Vorbild kann, das kann ich auch’. Sie haben jetzt viel mehr Ruhe“, staunt und schwärmt der Bundestrainer. Doch Gislason wäre nicht Gislason, wenn er nicht auch mahnen und warnen würde. Er kennt eben die Tücken der Branche. Den knallharten Wettbewerb. Die Gefahr von Zufriedenheit. Und vor allem die Klasse der Konkurrenz. Aus Frankreich und Dänemark sowieso. Aber auch aus anderen Ländern.
Zwar sei seine Mannschaft „deutlich näher“ an die Weltspitze herangerückt, sagt Gislason im Brustton der Überzeugung. Aber er weiß auch, dass sein Team nun anders wahrgenommen wird. Von den Gegnern - und im eigenen Land. „Es kommt ein kleines bisschen mehr Druck auf die Mannschaft zu, weil alle gesehen haben, was sie leisten kann“, so der Isländer zur gestiegenen Erwartungshaltung.
„Der Traum vom Halbfinale ist immer da“
Entsprechend ruft er das Ziel aus, erst einmal die zuletzt gezeigten Leistungen zu bestätigen. Auch das wäre übrigens ein Fortschritt und ein Nachweis von Klasse. Denn konstant ans Leistungslimit kommen nur die großen Teams. Also Dänemark und Frankreich - und auch die Schweden, die Gislason noch vor seinem Team einordnet.
„Wir müssen aber nicht nur diese drei Nationen schlagen, um weit zu kommen, sondern auch die anderen“, betont der 65-Jährige. Er hat das große Ganze im Blick und das dichte Gedränge im Medaillenkampf im Kopf. „Die Kroaten sind sehr gut in der Breite besetzt, Slowenien hat ein überragendes Olympia-Turnier gespielt (Vierter: Anmerkung der Redaktion), die Isländer haben einen super Kader.“ Auch die Spanier und Norweger gelte es zu beachten, meint Gislason und schwört sein Team auf einen harten Wettbewerb ein: „Wir sollten nicht glauben, dass es leichter wird. Denn dann werden wir wieder überholt.“ Und das soll natürlich um jeden Preis verhindert werden.
Dem Bundestrainer wäre es logischerweise viel lieber, wenn es weiter in die andere Richtung geht. Also nach oben. Die Deutschen sind nach Olympia-Silber schließlich auf den Geschmack gekommen. Sie wollen nachlegen. „Der Traum vom Halbfinale ist immer da“, gibt Gislason zu. Und wenn man erst einmal so weit gekommen ist, kann bekanntlich immer alles passieren. Notfalls mit zwei Ausreißern nach oben.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Handball Diese WM wird zeigen, ob das DHB-Team wirklich Weltklasse ist