Mannheim. Juri Knorr geht nicht einfach weiter. Sondern er bleibt stehen. Nimmt sich Zeit. Behält die Ruhe. Der Spielmacher der deutschen Handball-Nationalmannschaft kennt den Hype um seine Person. Er erlebt ihn jede Woche in der Bundesliga. Und jetzt im Trikot mit dem Adler auf der Brust. Auch zuletzt bei den Länderspielen in Flensburg und Kiel gegen Portugal. Knorr schreibt Autogramme. Macht Fotos. Erfüllt Wünsche. Was stets ein wenig mehr Zeit in Anspruch nimmt. Denn im Prinzip möchte jeder Fan ein Autogramm oder ein Foto mit ihm. Am besten sogar beides.
Für den 23-Jährigen ist all das aber kein Problem. Im Gegenteil. Sieht Knorr ein Kind mit seinem Namen auf dem Trikot, empfindet er das „als „schönste Form“ der Anerkennung. Es erfülle ihn mit Stolz, sagt er, es mache ihn glücklich. Doch nun soll der Regisseur nicht mehr nur ein paar Wünsche, sondern bei der Heim-EM die Sehnsucht einer ganzen Handball-Nation erfüllen.
Ob Knorr das kann? Allein auf keinen Fall. Und doch ruhen die Hoffnungen eben vor allem auf dem Mann, der vor einem Jahr zum besten Nachwuchsspieler der WM gewählt wurde. Der gebürtige Flensburger spielte sich damals in die Herzen der Massen. Noch dazu bringt er etwas mit, wonach die Fans jahrelang gierten: Spielwitz und Kreativität.
Wer den Straßenhandballer Knorr spielen sieht, entdeckt in ihm nach wie vor etwas Kindliches, entsprechend verkörpert er in jeder Aktion seine restlose Hingabe an das Spiel. Er liebt diesen Sport. Und ihn reizt das Risiko. Was im konkreten Fall kein Laster, sondern eine Tugend ist. Denn sonst wird man ausrechenbar.
Entwicklung zum Teamspieler
Das Spektakel hatte der Rechtshänder schon immer drauf. Ein starker Individualist, ausgestattet mit einem „Genie-Faktor“, wie Deutschlands Handball-Legende Stefan Kretzschmar einmal sagte. Doch mittlerweile ist Knorr kompletter. „Juri hat sich entwickelt, macht jetzt noch mehr für seine Mitspieler“, lobt Bundestrainer Alfred Gislason.
Der stets ehrgeizige und selbstkritische Knorr wiederum sieht noch „sehr viele Dinge, die ich besser machen kann“. Er strebt eben stets nach Perfektion. Nach dauerhaften Topleistungen. Doch diese Konstanz fehlt ihm noch. Was mit 23 Jahren und angesichts der Blessuren in den vergangenen Monaten aber nicht verwundert. Mal schmerzten die Rippen, dann der Rücken, es folgte ein Bänderriss.
Klar ist: Mit seinen überragenden Leistungen bei der WM 2023 und bei den Rhein-Neckar Löwen, die er im April als bester Spieler des Finalturniers sensationell zum Pokalsieg führte, hat er die Messlatte sehr hochgelegt. Und Erwartungen geschürt, die er (noch) nicht immer erfüllen kann. „Man sieht ihm an, dass er den Druck spürt. Er hat vielleicht ein wenig seine Leichtigkeit verloren“, sagt Andy Schmid, Knorrs legendärer Vorgänger bei den Rhein-Neckar Löwen. Und Knorrs Gegner am Mittwochabend (20.45 Uhr/live im ZDF), wenn Schmid die Schweiz im mit Spannung erwarteten EM-Eröffnungsspiel gegen Deutschland als Kapitän im Düsseldorfer Fußballstadion vor mehr als 53 000 Zuschauern aufs Feld führen wird.
Wenn man so will, ist diese Begegnung so etwas wie das Duell zwischen dem Lehrmeister und seinem Zauberlehrling. Zwölf Monate lang lernte Knorr bei den Löwen von Schmid, doch seit Sommer 2022 spielt er eben nicht mehr an der Seite des Schweizers, sondern an dessen Stelle. „Das eine Jahr mit Andy war eine mega-wichtige Erfahrung. Es war cool, ihn als Mentor zu haben“, sagt Knorr, der zu Beginn seiner Löwen-Zeit oft mit Schmid verglichen wurde.
Die ewigen Vergleiche
Bisweilen war das eine Last für ihn, wie der Star der deutschen Nationalmannschaft zugibt: „Wenn wir über Andy sprechen, reden wir über die Legende der Löwen. Wie sollte ich da in meinem Alter herankommen?“ Es ist eine rhetorische Frage.
Doch mittlerweile schreibt Knorr seine eigene Erfolgsgeschichte. Und zwar eine, von der noch niemand so ganz genau weiß, wie sie irgendwann endet. Nationaltorwart Andreas Wolff ist sich auf jeden Fall sicher: „Juri kann einer der Weltbesten werden.“
Wollen die Deutschen bei diesem Turnier tatsächlich um die Medaillen spielen, brauchen sie Knorr in Topform. Aber nicht nur ihn. Es wäre unfair, ja sogar unangebracht, den Erfolg oder Misserfolg an der Form eines Einzelnen festzumachen. Und doch ist Knorr eben der eine Spieler, der den Unterschied ausmachen kann. Entsprechend prasselt eine Menge auf ihn ein. Alle schauen auf Knorr.
„Er trägt die Verantwortung fürs ganze Land“, beschreibt Nationaltorwart David Späth recht treffend die gigantischen Erwartungen an den Spielmacher, der einer seiner engsten Freunde und sein Mannschaftskollege bei den Löwen ist. Er kennt Knorr also recht gut und versichert: „Juri ist das beste Beispiel dafür, wie man mit viel Verantwortung gut umgeht.“
Dem bisweilen zum Messias des deutschen Handballs erkorenen Knorr gelingt es, den Rummel um ihn auszublenden. Weihnachten und Silvester verbrachte er bei der Familie an der Ostsee in der Nähe von Lübeck. „Das ist mein Rückzugsort“, sagt der 23-Jährige. Dem von außen an ihn herangetragenen Druck begegnet er mit einer Portion Pragmatismus: „Ich bin gefühlt immer noch der kleine Junge, der für den VfL Bad Schwartau auf dem Feld steht. Jetzt spiele ich eben für Deutschland gegen Frankreich und Nikola Karabatic.“
Knorr gibt zwar zu, dass diese Entwicklung „schon krass sei“, bleibt aber bei seiner Einschätzung, dass sich nichts Grundsätzliches geändert habe. „Im Endeffekt mache ich nur das, was ich schon seit meiner Kindheit tue. Ich habe praktisch in all meinen Mannschaften auf dieser Position gespielt und fülle diese Rolle nun so aus, wie ich das bereits in der C-Jugend getan habe“, verrät der Hochbegabte seine recht simple Herangehensweise, auch wenn er natürlich weiß, dass er nun ein wesentlich besserer Spieler ist als damals als Elf- oder Zwölfjähriger. „Aber“, und auf diese Feststellung legt der Löwe Wert, „an meinem Spielstil, also an der Art und Weise meines Handballs, hat sich seitdem gar nicht so viel verändert.“ Ein wenig aber schon. Er spielt „erwachsen“. Was für ihn persönlich ohnehin gilt.
Denn so sehr Knorr auf dem Feld auch jemand für die Showtime ist, so wenig hat das mit dem Menschen hinter dem Handballer gemein. Aufgeräumt, demütig und zurückhaltend kommt der 23-Jährige stets daher. Er wirkt bodenständig und geerdet. Auch wenn der Rechtshänder von seinem Naturell gewiss kein Mitläufer, sondern durchaus ein Anführer ist. Ausgestattet mit Bescheidenheit und Selbstbewusstsein. In seinem Fall ist das übrigens kein Widerspruch. Im Gegenteil.
Führung durch Leistung
Knorr ist vielmehr das beste Beispiel dafür, dass der Lauteste nicht immer der Stärkste sein muss. Mal ganz abgesehen davon, dass er tief in seinem Innersten ohnehin weiß, „dass ich eine Art der Führung auf dem Feld habe“. Allein schon aufgrund seiner Position, aber eben auch wegen seiner Fähigkeiten. Es ist eine Führung durch Leistung, die auf einem Vertrauen in die eigenen Qualitäten basiert.
„Ich will Verantwortung übernehmen, der Mannschaft helfen, mich einbringen. Natürlich ist mein Selbstvertrauen nicht immer maximal ausgeprägt. Aber tief in mir steckt die Überzeugung, dass ich ein guter Handballer bin und dass ich gut spielen kann“, sagt Knorr, der in seiner Kindheit auch ein extrem begabter Fußballer war.
Bis zur D-Jugend trug der gebürtige Flensburger das Trikot des traditionsreichen Hamburger SV, stand in einer Mannschaft mit den jetzigen Bundesligaprofis Josha Vagnoman (VfB Stuttgart) und Jann-Fiete Arp (Holstein Kiel). Doch schon damals sei dort „der Druck zu groß“ gewesen, weshalb der Mann mit den langen blonden Haaren auf den Handball setzte. Es war eine gute Entscheidung.
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