Es ist ein paar Monate her, da geriet Alfred Gislason ins Schwärmen. Der Handball-Bundestrainer sprach – oder besser gesagt: er referierte – über die traumhaften Trainingsmöglichkeiten für Nachwuchsspieler in seiner isländischen Heimat, wo nur ein wenig mehr Menschen (372 000) als in Mannheim (325 000) leben, aber trotzdem reihenweise Weltklasse-Handballer ausgebildet werden. Gislason erzählte begeistert, welch gute Trainer es gebe und wie viele Übungsstunden pro Woche für die Kinder anstehen, wie toll die Infrastruktur sei und merkte an, dass Deutschland mit diesen paradiesischen Zuständen wenig bis gar nichts gemein habe.
In der Tat ist es bewunderns- und beneidenswert, was auf der kleinen Insel im Nordatlantik seit Jahrzehnten geleistet wird. Allerdings wurden im Juni trotz all dieser infrastrukturellen Unterschiede die deutschen und nicht die isländischen Junioren Handball-Weltmeister. Und zwar mit sieben Siegen in sieben Spielen, nachdem eben dieser Jahrgang 2021 schon den Europameistertitel geholt hatte. Kurzum: Diese Jungs können was.
Das freut natürlich auch den Bundestrainer, es erhöht schließlich die Erfolgsaussichten. Vor allem für die Zukunft. Gislasons Herausforderung – oder vielleicht sogar Problem – ist allerdings, dass er schon in der Gegenwart liefern muss. Im Januar steht die Heim-EM an. Und die Vorgabe der Verbandsspitze beim Deutschen Handballbund (DHB) ist unmissverständlich: Das Halbfinale soll es schon sein, was durchaus eine Ansage ist. Nur so zu Einordnung: Zum letzten Mal gelang das 2019. Es stellt sich also die berechtigte Frage: Wie soll das klappen? Oder besser gefragt: Kann das überhaupt gelingen?
Vermutlich keine finalen Antworten liefern, sehr wohl aber Aufschlüsse geben werden die beiden Länderspiele gegen den Afrikameister und Olympiavierten Ägypten am Freitag (18.35 Uhr/live bei Sport 1) in Neu-Ulm und am Sonntag (17.15 Uhr/live im ZDF) in München. „Wir wollen nicht nur experimentieren. Das Ergebnis nimmt eine große Rolle ein – auch wenn es Testspiele sind. Diese Mannschaft braucht Vertrauen in sich selbst“, sagt Gislason, der sein Handball-Labor nun verlassen und die Alltagstauglichkeit seiner Ideen erproben wird. Wenngleich er doch ein wenig improvisieren muss, denn für die in zwei Monaten beginnende EM erfüllen sich zwei personelle Wünsche nicht.
Keine Rückkehr der Altstars
Der Bundestrainer kokettierte in den vergangenen Monaten mit der Rückkehr von Weltklasse-Kreisläufer Hendrik Pekeler. Der Kieler sagte allerdings ab. Er fühlt sich nicht fit genug. Und auch mit einem Comeback von Fabian Wiede wird es verletzungsbedingt nichts. Vor ein paar Wochen hatte der Berliner noch seine Differenzen mit Gislason ausgeräumt, nachdem er zuvor einige Turniere abgesagt hatte und anschließend einfach nicht mehr berücksichtigt worden war.
Gislason hätte ihn und Pekeler gerne dabei gehabt – vor allem auch ihre Routine. Was nur allzu verständlich ist, weil ein Mitwirken des Duos die Erfolgschancen erhöht hätte. „Was die Erfahrung angeht, sind wir weit weg von Mannschaften wie Spanien oder Frankreich“, sagt Gislason, der sich aber nicht unterkriegen lässt und schon gar nicht die Nerven verliert. Hektik gehörte noch nie zu seinen hervorstechenden Eigenschaften, er ist eher für eine unaufgeregte Herangehensweise bekannt. So groß das Problem auch ist, der 64-Jährige wirkt stets so entspannt, als koche er sich gerade einen morgendlichen Kaffee. Entsprechend sagt er auch jetzt: „Wir müssen etwas anders machen.“ Nämlich auf die Jugend zu setzen.
Hannings Forderung
Die Forderungen danach sind nach dem deutschen Triumph bei der Junioren-WM ohnehin laut geworden. Der ehemalige DHB-Vize Bob Hanning legte sich bereits kurz nach dem WM-Sieg fest. „Natürlich müssen zwei bis drei Spieler aus dem U-21-Aufgebot in den EM-Kader aufrücken. Für die Entwicklung von Spielern und der Nationalmannschaft als großes Ganzes ist das unumgänglich“, schrieb er gewohnt wortgewaltig und unmissverständlich in seiner Kolumne im „Kicker“. Zuvor hatte Hanning schon bei „Eurosport“ seine Sichtweise klargemacht: „Warum sollten wir weiter auf das Alte setzen? Wir müssen jetzt das neue Zeitalter einläuten.“
Mit den Absagen von Pekeler und Wiede wurde Gislason die Entscheidung ein Stück weit abgenommen. Kreisläufer Justus Fischer (TSV Hannover-Burgdorf, 20 Jahre), Rückraum-Linkshänder Renars Uscins (TSV Hannover-Burgdorf, 21 Jahre), Torwart David Späth (Rhein-Neckar Löwen, 21 Jahre) und Spielmacher Nils Lichtlein (Füchse Berlin, 21 Jahre) schafften es ins Aufgebot für die Ägypten-Länderspiele. „Einige von ihnen haben gute Chancen, bei der EM dabei zu sein. Das Alter ist nicht wichtig. Wer große Leistungen bringt, der wird nominiert“, sagt Gislason und spricht von einem Kader mit „sehr viel Talent“.
Fischer wird verletzungsbedingt zwar nicht zum Einsatz kommen, aber trotzdem ein paar Tage am DHB-Lehrgang teilnehmen, um taktische Abläufe zu lernen. Der Kreisläufer und auch Uscins reiften in Hannover unter Christian Prokop zu Bundesligaspielern und Hoffnungsträgern für den deutschen Handball. Also genau bei dem Trainer, dem sie – welch herrliche Pointe – beim DHB vor dreieinhalb Jahren keine Weiterentwicklung der Nationalmannschaft mehr zutrauten und ihn durch Gislason ersetzten. Es folgten – wenn auch zum Teil unter erschwerten Corona-Bedingungen – die WM-Plätze zwölf und fünf, das Viertelfinalaus bei Olympia und EM-Rang sieben.
Im Januar 2024 soll nun deutlich mehr herausspringen. Eine Heim-EM eignet sich schließlich weder als Durchgangsstation noch als Entwicklungsturnier. Fischer, Uscins, Lichtlein und Späth – sie werden vermutlich die nächsten Jahre dieser Mannschaft prägen. Das gilt natürlich auch für Juri Knorr (23 Jahre) und Julian Köster (23), die schon jetzt neben dem ebenfalls noch jungen Kapitän Johannes Golla (25) zu den absoluten Leistungsträgern zählen und viel – vielleicht sogar zu viel – Verantwortung tragen.
Ihnen gehört die Zukunft. Aber ist diese Ansammlung von Hochbegabten auch schon bereit, in der Gegenwart zu glänzen und eine deutsche Mannschaft in das Halbfinale oder sogar zu einer Medaille zu führen? Kommt dieses Turnier also zu früh für sie, um die wahrlich hochgesteckten Ziele zu erreichen?
Gislason sagt nur: „Wir gehören nicht zu den großen Favoriten.“ Das stimmt. Und trotzdem muss es das Halbfinale im Januar sein.
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