Frau Merz, Frau Kuttler, wenn Sie ein Handballspiel als Zuschauerinnen verfolgen: Achten Sie auf das Spiel oder die Schiedsrichterleistung?
Maike Merz (lacht): Ich finde es ganz schwierig, Handball zu genießen. Ich muss mich manchmal zwingen, das Spiel einfach mal nur auf mich wirken zu lassen. Aber na klar, automatisch schaue ich auf die Schiedsrichterleistung. Und wenn Tanja und ich zusammen schauen, diskutieren wir auch viel über die Entscheidungen…
Tanja Kuttler: …weshalb ich auch ganz gerne alleine Handball schaue. Denn wenn jemand neben mir sitzt, kommentiere ich jeden zweiten Pfiff (lacht).
Wenn eine Schiedsrichterleistung gut ist, wird nicht darüber gesprochen, heißt es häufig. Ist das nicht schade?
Kuttler: Jeder wird gerne gelobt. Aber wir kommen gut damit zurecht, wenn das nicht der Fall ist. Es ist ja fast normal, dass über eine gute Leistung weniger gesprochen wird. Wobei sich das etwas geändert hat. Auch in den Medien. Unabhängig davon bevorzugen wir es aber, unsichtbar im Spiel zu sein. Denn dann läuft es meistens reibungslos.
Bekommen Schiedsrichter – egal ob Frau oder Mann – also mittlerweile mehr Anerkennung als früher?
Kuttler: Da fehlt mir der Vergleich. Auch die Medienwelt ist eine andere. In den sozialen Netzwerken werden Schiedsrichter selten gelobt, aber das ist ein grundsätzliches Phänomen dieses Mediums. Da wird einfach mehr geschimpft.
Gemeinsam an die Spitze
- Tanja Kuttler und Maike Merz sind Geschwister. Seit 2008 pfeifen sie zusammen als Schiedsrichterinnen.
- Beide wuchsen in Tettnang am Bodensee auf und spielten selbst Handball für die SG Argental.
- Merz hat zwei Töchter, Kuttler einen Sohn.
- Seit 2019 leiten Kuttler und Merz Spiele in der deutschen Männer-Bundesliga, 2022 leiteten sie das Frauen-Finale der Champions League.
Wie nutzen Sie soziale Netzwerke?
Kuttler: Wir sind stille Beobachterinnen und schauen da schon rein, wenn wir uns nach dem Spiel auf dem Heimweg befinden. Bisweilen ist es amüsant, was da geschrieben wird. Aber das lassen wir nicht an uns herankommen. Uns ist bewusst, dass in den sozialen Netzwerken häufiger in einer herablassenden Art über Menschen geschrieben wird. Da geht es den Spielern und Trainern ja nicht besser.
Es ist mittlerweile normal, dass Sie in der Männer-Bundesliga pfeifen. Wenn Sie an Ihre Anfänge denken: War es da auch normal, dass Sie beide eine Partie leiten?
Merz: Als wir begonnen haben, waren Frauen an der Pfeife nicht der Normalfall, sondern eine Ausnahme. Wir waren Exotinnen. Wenn wir in eine Halle reingekommen sind, mussten wir uns häufiger etwas anhören.
Was denn?
Merz: „Das Volleyballspiel der Frauen ist in einer anderen Halle.“ Das war einer dieser Sprüche. Im Prinzip waren wir überall, wo wir hingekommen sind, etwas Besonderes. Dabei möchte ein Schiedsrichter ja eben genau das nicht sein. Ein Schiedsrichter – ob Mann oder Frau – möchte nicht auffallen. Und wenn wir dann schon auffallen, wenn wir nur die Halle betreten, erleichtert das die Aufgabe nicht.
Was haben diese Erfahrungen mit Ihnen gemacht?
Kuttler: Uns hat das nicht gestört, wir hatten kein Problem damit. Uns war wichtig, unsere Leistung zu bringen und mit den Trainern und Spielern klarzukommen.
Und wie lief es innerhalb des Verbandes?
Kuttler: Es gab für uns damals überhaupt keinen Weg. Ein Aufstieg für Frauen war in unserem Bezirk schlichtweg nicht vorgesehen. Uns wurden zu Beginn viele Steine in den Weg gelegt. Da brauchen wir kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Es wurde uns schlichtweg nicht zugetraut, den Weg bis ganz nach oben zu gehen. Für uns sollte Feierabend auf einem gewissen Level sein. Wir mussten also immer kämpfen, um die nächsten Hürden zu überwinden. Was bei ambitionierten und engagierten Männern automatisch passiert ist, wurde uns lange nicht ermöglicht. Wir mussten besser sein als Männer. Aber jetzt ist das anders. Es hat sich sehr viel zum Guten verändert.
Was denn?
Kuttler: Mit Beginn des DHB-Frauen-Projektes 2011 haben wir die Möglichkeit bekommen, den Weg nach oben zu nehmen. Wir hatten die Chance, uns zu zeigen, und haben diese genutzt. In den ersten Jahren mussten wir aber natürlich sehr viel aufholen, was wir zuvor durch die fehlende Förderung verpasst hatten. Ab diesem Zeitpunkt gab es sehr viele Menschen, die uns auf unserem Weg unterstützt haben – allen voran Peter Rauchfuß (ehemaliger DHB-Schiedsrichterwart: Anmerkung der Redaktion), der immer an uns geglaubt hat, auch wenn wir zu Beginn natürlich noch nicht auf dem notwendigen Leistungsniveau waren und sehr viel an uns arbeiten mussten. Mit dem aktuellen deutschen Schiedsrichter-Leitungsteam erfahren wir mittlerweile die bestmögliche Förderung und Unterstützung und können uns so Schritt für Schritt weiterentwickeln.
Sie sind bislang das einzige weibliche Gespann in der Männer-Bundesliga. Wo sind die anderen Frauen, die mit Ihnen angefangen haben? Haben die entnervt vom System aufgegeben?
Kuttler: So pauschal kann man das nicht sagen. Auch bei den Männern gibt es eine gewisse Fluktuation. Aber ja, bei den Frauen haben sich einige entmutigt gefühlt, weil uns recht früh Grenzen aufgezeigt wurden. Der Beginn des Frauen-Projekts beim Deutschen Handballbund hatte zunächst nicht das Ziel, dass wir Frauen im Profibereich der Männer pfeifen. Da wurde uns recht klar gesagt, dass das nicht unser Weg sein wird, sondern dass wir in der 1. und 2. Liga der Frauen pfeifen werden. Das hat einige Schiedsrichterinnen demotiviert. Deswegen haben sie aufgehört.
Warum blieben Sie dabei?
Kuttler: Wir hatten mit Anja Salzwedel (ehemalige DHB-Frauenbeauftragte: Anmerkung der Redaktion) eine sehr gute Mentorin. Sie hat immer gesagt: „Wir Frauen müssen erst mal zeigen, dass wir es können. Und wenn wir so weit sind und das Leistungsniveau erreicht haben, können wir auch gewisse Dinge einfordern.“ Daran haben wir uns immer festgehalten.
Männer können Papa werden und trotzdem weiter pfeifen, das geht bei Frauen naturgemäß nicht. Ist es Zufall, dass Ihre Kinder fast zeitgleich geboren wurden?
Kuttler: Nein, als Frau im Leistungssport muss man einen gewissen Plan haben. Entsprechend kann man auch nicht die Familienplanung dem Schicksal überlassen. Das muss man einfach so sachlich sehen. Nehmen wir mal an, wir wären hintereinander schwanger geworden. In diesem Fall wären wir mehr als zwei Jahre raus aus dem Schiedsrichtergeschäft gewesen. Und danach dann zurückzukommen, das stelle ich mir sehr schwierig vor.
Das hört sich sehr berechnend an. Geht da nicht ein wenig die Romantik verloren?
Kuttler: Darüber darf man gar nicht so viel nachdenken. Wir ordnen sicherlich viel dem Sport unter, andererseits planen auch andere Paare ihre Familie. Deswegen sollte man das nicht überbewerten. Aber Kinder per Post bestellen, das geht eben nicht.
Gibt es ein konkretes Erlebnis, das Sie bei all den Abstrichen im Privatleben besonders geschmerzt hat mit Blick auf die Familie?
Merz: Auf jeden Fall. Die ersten Schritte meiner älteren Tochter habe ich verpasst, weil wir bei einer Juniorinnen-WM waren. Solch einen Moment möchte jeder gerne miterleben. Aber nicht nur jede Mutter, sondern auch jeder Vater. Ich habe dieses Erlebnis hinter mir, bei Tanja steht es noch an.
Inwiefern?
Kuttler: Mein Sohn hat im Januar Geburtstag. Aber er ist jung und kann den Kalender noch nicht lesen, da können wir problemlos eine Woche später feiern, wenn ich wieder zurück bin (lacht).
Ist für Sie als Frauen der Umgang mit den männlichen Handballern eigentlich leichter?
Kuttler: Das lässt sich wirklich einfach beantworten. Für uns ist der Umgang mit Männern definitiv einfacher als mit Frauen. Wir wissen nicht genau, warum das so ist, aber es fällt uns deutlich einfacher.
Gibt es eine Theorie, warum das so ist?
Kuttler: Vermutlich ist der Respekt eines Mannes vor einer Frau größer. Vor allem bekommt man aber von Männern als Schiedsrichterin einen Vertrauensvorschuss. Da muss man erst drei, vier, fünf Sachen schlecht gemacht haben, um im Ansehen zu sinken. Bei Frauen ist es umgekehrt: Da muss man sich erst mal das Vertrauen erarbeiten.
Merz: Die Kommunikation mit den meisten Männern ist auch einfacher. Man kann direkter sein und muss nicht überlegen, wie man etwas formuliert. Wir als Frauen wissen ja selbst, wie wir reagieren, wenn uns etwas gesagt wird, was wir nicht so gerne hören wollen. Das wissen wir in zwei Jahren noch (lacht). Männer können damit besser umgehen.
Was bedeutet die anstehende WM für Sie?
Kuttler: Wir haben 2022 das Frauen-Finale der Champions League gepfiffen. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich an die Atmosphäre in der Arena in Budapest denke. Das war ein gigantisches Erlebnis. Aber wir empfinden es als Wertschätzung unserer Arbeit, für diese WM nominiert worden zu sein. Dieses Turnier ist ein Höhepunkt in unserer Karriere.
War die Nominierung absehbar?
Merz: Wir haben nicht mit einer Männer-WM gerechnet und waren entsprechend überrascht, als es anders kam. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, dass Frauen trotz der wiederholt nominierten Französinnen Charlotte und Julie Bonaventura für eine Männer-WM berücksichtigt werden – auch wenn wir uns vom Leistungsniveau mit den anderen neuen Gespannen bei der WM messen können. Deswegen ist es letztlich fair, dass wir dabei sind. Dennoch waren wir ein wenig erstaunt, dass wir als Frauen diese Chance bekommen.
Um Interessenskonflikte zu vermeiden, lautet eine Faustregel: Kommt die Mannschaft einer bestimmten Nation im Turnier weit, müssen sich die Schiedsrichter aus diesem Land früher verabschieden. Was wünschen Sie sich?
Kuttler: Da kann es nur eine Antwort geben: Für Handball-Deutschland ist es das Wichtigste, dass die deutsche Nationalmannschaft erfolgreich ist. Kein Mädchen oder Junge fängt an, Handball zu spielen, nur weil deutsche Schiedsrichter das Finale pfeifen.
Wenn Sie nun kurz vor der WM an Ihre Anfänge denken: Was spüren Sie, es so weit gebracht zu haben?
Merz: Es ist schön, dass sich unsere Arbeit auszahlt. Wir stecken praktisch unsere gesamte Freizeit in den Handball, verpassen Hochzeiten oder Geburtstage. Aber wir bekommen dafür etwas zurück – und deswegen machen wir es gern.
Was ist das Schöne an der Schiedsrichterei? Eigentlich können Sie es nie allen recht machen.
Kuttler: Diese Aufgabe macht uns wahnsinnig viel Spaß, weil wir erlebt haben, dass wir in einem kleinen Team viel erreichen können. Außerdem ist der Schiedsrichterjob auf diesem Level eine eigene Sportart. Es geht nicht mehr nur darum, die Linie rauf und runter zu rennen.
Merz: Uns war immer wichtig, dass es sich nach Sport anfühlt. Wir müssen sehr viel trainieren, um auf dem Feld mithalten zu können. Und was Sie sagten, dass man es im Prinzip nicht allen recht machen kann, ist genau die Herausforderung, der wir uns gerne stellen. Wir wollen eben doch alle zufriedenstellen und am Ende sagen, dass wir alles im Griff hatten.
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