Mannheim. Elisabeth Seitz hat in ihrem Leben schon viele schwierige Entscheidungen treffen müssen. Das gehört zum Sportler-Dasein dazu. Doch diese Entscheidung fiel ihr schwerer als andere. Gehe auch ich an die Öffentlichkeit? Die deutsche Turn-Rekordmeisterin ging mit sich ins Gericht und brach schließlich ihr Schweigen. „Es sind so viele Missstände ans Licht gekommen. Ich sehe es als Chance, die wir nutzen müssen, damit die Zukunft besser wird“, sagt Seitz in einem Beitrag der ARD-Sportschau, der am vergangenen Wochenende aufrüttelte.
Seit Ende des vergangenen Jahres gibt es öffentliche Stellungnahmen, in denen vor allem ehemalige Turnerinnen Missstände anprangerten. Es war von einem krassen Machtgefälle zwischen Trainern und Athletinnen die Rede. Angeführt von Tabea Alt und Michelle Timm geriet zunächst der Bundesstützpunkt in Stuttgart, bei dem es bereits personelle Konsequenzen gab, in den Fokus. Die Welle erreichte aber auch den Bundesstützpunkt Mannheim. So prangerte die ehemalige deutsche Jugendmeisterin Zoé Meißner in einem SWR-Interview harsche und autoritäre Trainingsmethoden an. Sie habe trotz einer Verletzung das Training fortsetzen müssen.
„Hör auf, dich selbst zu bemitleiden“
Ähnliche Erfahrungen schilderte nun Seitz. Die in Heidelberg geborene Altlußheimerin schloss sich im Alter von 13 Jahren der Trainingsgruppe von Trainerin Claudia Schunk an, unter der sie den Sprung in die Weltklasse schaffte. Die Umstände bewertet die heute 31-Jährige im Rückblick aber sehr kritisch: „Dann bin ich beim Jägersalto mit dem Gesicht auf den Holm geknallt und habe mir die Lippe durchgebissen, mein Zahn war beschädigt“, erzählt die Stufenbarren-Europameisterin von 2022 im Sportschau-Beitrag. Während sie mit Schmerzen auf ihre Mutter wartete, habe sie mit Krafttraining weitermachen müssen – ein Kühlakku auf der geschwollenen Lippe. „Der Satz, den ich immer wieder hören musste, war: Hör auf, dich selbst zu bemitleiden“, sagt Seitz.
Seitz ist keine Turnerin aus der zweiten Garde, sondern eines der Gesichter dieser Sportart in Deutschland. Ihr Wort hat Gewicht. So hörten auch die Verantwortlichen in Mannheim ganz genau hin. „Natürlich war ich persönlich erstmal total geschockt und musste das sacken lassen. Wenn du so etwas in einer ARD-Sportschau siehst, ist das für einen Stützpunktleiter wie eine schallende Ohrfeige“, teilt Joachim Fichtner auf Nachfrage dieser Redaktion mit. Der Sportvorstand der TG Mannheim und Leiter des Bundesstützpunktes in Mannheim ergänzt: „Nach einer schlaflosen Nacht musst du ja aber versuchen, solche Vorwürfe sachlich zu bewerten.“
Die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen. Fichtner erlebte die Zeit, auf die sich Seitz bezog, aus der Elternperspektive mit. Seine Tochter turnte in Mannheim, erst seit 2018 ist der 59-Jährige Leiter des Bundesstützpunktes Mannheim. „Ehrlich gesagt, kann ich das (die Vorwürfe von Elisabeth Seitz, Anm. der Red.) jetzt als damaliger Elternteil und aus Sicht meiner Tochter, so nicht bestätigen. Aber es gab trotzdem Gründe, dass ich Verantwortung übernommen habe, um am Mannheimer Stützpunkt Veränderungen zu bewirken“, betont Fichtner.
Sportpsychologisches Konzept der TG Mannheim wird ausgezeichnet
Die TG Mannheim installierte ein sportpsychologisches Konzept. In der Präambel heißt es: „Die Turngemeinschaft (TG) Mannheim versteht sich als eine hochleistungsorientierte Kunstturn-Talentschmiede mit Herz und Verstand. Daher spielt am Stützpunkt in Mannheim die sportpsychologische Betreuung eine wegweisende Rolle.“ Ziel sei es, ein „wertschätzendes Klima“ aufzubauen, eine „lernförderliche Umwelt“ zu schaffen, „die das psychische Wohlbefinden der Kunstturnerinnen schützt“. Sportpsychologin Laura Giessing entwickelte das Projekt, das 2020 von der Robert-Enke-Stiftung ausgezeichnet wurde.
Dieses Konzept sei nicht unbedingt eine Konsequenz der Trainingsmethodik, sagt Fichtner. Die „extrem hohe Belastung für die meist noch jungen Athletinnen, der erforderliche Trainingsumfang in Kombination mit der Schule, manchmal eine bedrückende Stimmung in der Trainingshalle und natürlich auch unzählige Gespräche mit anderen Eltern“, habe eine Rolle gespielt und Einfluss auf die Ausgestaltung genommen. „Heute nehme ich die Stimmung an unserem Stützpunkt schon deutlich positiver wahr. Aber trotzdem sind wir uns bewusst, dass wir noch bessere Bedingungen für die Athletinnen schaffen müssen“, betont Fichtner, der über den Tellerrand blickt: „Im Fußball oder manchen anderen Sportarten, ist der Staff inzwischen größer als der Mannschaftskader. Das ist ja nicht, damit die Clubs ihr Geld loswerden. Sondern aufgrund der Tatsache, dass im Spitzensport viele Spezialisten aus unterschiedlichen Bereichen notwendig sind. Diese für unsere Sportart zu gewinnen und das zu finanzieren, ist die Herausforderung.“
Der Deutsche Turner-Bund (DTB) ist mit der Aufklärung der Vorwürfe beschäftigt. Wie Elisabeth Seitz in der ARD-Sportschau bekräftigt, habe sie dem Verband die Vorfälle am Mannheimer Bundesstützpunkt bereits 2014, im Jahr vor ihrem Wechsel zum MTV Stuttgart, gemeldet. „Zuletzt war ich vor wenigen Wochen noch mal im Gespräch mit dem DTB und habe noch einmal alles auf den Tisch gelegt. Sie haben alles, und deswegen sollte das jetzt bearbeitet werden – endlich.“
Joachim Fichtner teilt diese Forderung, die Aufarbeitung der Vorwürfe solle aber von einer komplett unabhängigen Kommission begleitet werden. „Transparenz, Ehrlichkeit und Offenheit wären meine ersten Ansätze. Aktuell wird die hierfür gewählte Rechtsanwaltskanzlei infrage gestellt. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn sich beide Seiten einfach mal an einen Tisch setzen.“
Claudia Schunk lässt Trainertätigkeit in Mannheim ruhen
Am Mannheimer Bundesstützpunkt gab es bereits Konsequenzen. Claudia Schunk, die lange Jahre hohe Wertschätzung genoss und 2017 zur Nachwuchsbundestrainerin befördert wurde, wird bis auf Weiteres nicht mehr das Trainerteam in Mannheim verstärken. Zuletzt hatte sie zur Unterstützung mitgeholfen, weil sich die aktuelle Cheftrainerin in Mutterschutz und Elternzeit befand. „Claudia Schunk hatte mit uns ein langes Gespräch, in dem sie uns mitteilte, dass ihr der Mannheimer Stützpunkt sehr am Herzen liegt und es ihr wichtig ist, diesen zu schützen. Vor allem jetzt, nachdem es hier so viele positive Veränderungen in Mannheim gegeben hat“, sagt Fichtner und ergänzt: „Daher möchte sie erstmal nicht weiter nach Mannheim in die Trainingshalle kommen, bis die Vorwürfe gegen sie aufgeklärt sind. Das komplette Trainerteam als auch unsere Athletinnen bedauern diese Entscheidung sehr. Aber zugleich haben wir größte Hochachtung, solch einen Schritt zu gehen, der ihr ganz sicher nicht leicht fiel.“
Fichtner möchte aber nicht ganz mit Schunk brechen. „Als Stützpunktleiter kann ich meine bisherige Aussage nur wiederholen: Gerade Claudia Schunk ist das beste Beispiel, dass man sich auch als erfahrene Trainerin neu erfinden kann und Werte umsetzt, die früher nebensächlich waren“, betont der 59-Jährige.
Ähnliche Worte findet Alina Korrmann, die bei der TG Mannheim als Cheftrainerin auf Schunk folgte: „Aus meiner Sicht hatte Claudia zu all ihren Turnerinnen ein sehr gutes Verhältnis in und außerhalb der Turnhalle. Ich selbst war auch anfangs noch in der Trainingsgruppe von Claudia und hatte immer Spaß im Training. Ich empfand Claudia als streng und auch fordernd (…). Es gab sicherlich die eine oder andere unglückliche Situation, die man hätte besser lösen können, aber jeder macht Fehler, das ist menschlich. Wie auch die Turnerinnen sind Trainer keine Roboter. Wichtig ist aber, wie man damit umgeht und sich selbst reflektiert.“
Schunk selbst hatte der ARD auf Anfrage mitgeteilt, „dass es nie meine Absicht war, die Turnerinnen zu belasten und dass, sollte meine Vorgehensweise gleichwohl so wahrgenommen worden sein, mir dies leidtut.“
Ihr früherer Schützling wünscht sich nichts mehr als ein Wandel für aktuelle und künftige Generationen. „Ich möchte auf keinen Fall, dass irgendein Kind oder ein Mädchen so was noch mal erleben muss“, sagt Elisabeth Seitz.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Unabhängige Kommission für Aufklärung im Turnen gefordert