Fußball-EM

Erneut "Wolfsgrüße": Türkische Spiele bleiben politisch

Das türkische EM-Team verabschiedet sich mit einer leidenschaftlichen und beeindruckenden Leistung. Im Vorfeld und auf den Rängen taucht aber mehrfach erneut die umstrittene Geste auf. Und Mesut Özil tauch auch auf

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Frank Hellmann
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Treffen in Berlin: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (rechts) mit seiner Frau Emine Erdogan – dahinter Mesut Özil. © Sebastian Christoph Gollnow/dpa

Berlin. Ein Durchkommen war weit nach Mitternacht rund um den Breitscheidplatz nahezu unmöglich. Im Herzen der deutschen Hauptstadt bildete das Potpourri aus türkischen Gesängen, hupenden Autos, quietschenden Reifen und verzweifelten Polizeidurchsagen („Fahren Sie nicht auf die Kreuzung, wenn andere Fahrzeuge dort stehen“) eine Melange, die nur furchtlose Zeitgenossen ertragen konnten. Neben der Gedächtniskirche strahlten zwar riesengroße Figuren im deutschen und spanischen Nationaltrikot, aber in der Mitte von Berlin leuchtete und lärmte alles in türkischen Farben.

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Was sich niemand vorstellen konnte: Wie hätte das bitte ausgesehen, wenn die Türkei das dramatische EM-Viertelfinale gegen die Niederlande nicht mit 1:2 verloren, sondern gewonnen und genau wie 2008 in der Schweiz und Österreich das Halbfinale erreicht hätte? Vermutlich wären ihre Anhänger auf die denkmalgeschützte Kuppel des christlichen Bauwerks geklettert. Und hätten oben den „Wolfsgruß“ gezeigt.

Einst Merkel in der Berliner Kabine, nun Erdogan

So aber blieb es bei der Vorort-Aufmunterung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, dessen Anwesenheit viele aus der türkischen Community sichtlich erfreute. Immer wieder drängten Landsleute vorbei am Ordnungspersonal an die Empore. Und wer bei seinem Handyfoto Glück hatte, bekam hinter Erdogans Ehefrau Emine auch Mesut Özil ins Bild.

Einst hatte sich Angela Merkel hier zu dem deutschen Nationalspieler in die Kabine gesetzt, aber die Aufnahme muss aus einem anderen Leben kommen. Jetzt war es Erdogan, der aus einem Kabinenbesuch seine Stellung festigen wollte. „Ich gratuliere euch. Auch wenn wir heute hier dieses Ergebnis erzielt haben, seid ihr unsere Champions“, sagte der 70-Jährige zu den türkischen Kickern. „Das hat Zukunft. Wir werden diese Arbeit fortsetzen.“

Frommer Wunsch, dass die "Wolfsgrüße" diesmal ausbleiben

Angeblich hatte sein Erscheinen nichts mit der UEFA-Sperre gegen Verteidiger Merih Demiral zu tun, dessen „Wolfsgrüße“ zuvor die Wellen so hochschlagen ließen. „Es war schon vorher abgesprochen, dass unser Staatschef zu diesem Spiel kommen wollte“, sagte Teammanager Hamit Altintop. Wirklich? Der autokratisch regierende Herrscher am Bosporus bedient gerne die Klaviatur, von Europa - insbesondere Deutschland - ungerecht behandelt zu werden.

Dass der höchst umstrittene „Wolfsgruß“ die Zugehörigkeit oder das Sympathisieren mit der rechtsextremen Ülkücü-Bewegung und ihrer Ideologie ausdrückt, ist leider auch unter vielen türkischen Fußballfans verankert. Es wäre ein frommer Wunsch gewesen, dass die Botschaft bei dieser EM-Begegnung nicht auftauchen würde. So war es dann auch: Die Polizei löste zwar wegen zu vieler politischer Zeichen einen Fanmarsch zum Stadion auf, aber ohne Verbot in Deutschland bestand keine Handhabe gegen dieses massenhafte Fingerzeichen.

Calhanoglu will sich nicht äußern

Immerhin: Als der für Provokateur Demiral in die Verteidigung zurückgekehrte Samet Akaydin am langen Pfosten zum frenetisch bejubelten 1:0 einköpfte (35.), hob der Torschütze bloß den Zeigefinger und sackte auf die Knie.

In dieser Phase war sich Edeltechniker Arda Güler für keinen Meter zu schade, ging Kapitän Hakan Calhanoglu keinen Zweikampf aus dem Wege. Selbst nach dem unglücklichen Eigentor von Mert Müdür (76.) drängte das türkische Team in einer hochklassigen Schlussphase vehement auf den Ausgleich. Es dauerte, bis sich diese tapfere Truppe auf die verdiente Ehrenrunde begab. „Wir sind stolz auf das, was wir geleistet haben“, sagte der gebürtige Mannheimer Calhanoglu: „Keiner hat erwartet, dass wir es so weit schaffen.“ Jeden Kommentar zu den Störgeräuschen verbat sich der bei Inter Mailand spielende 30-Jährige.

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Frank Hellmann
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Insofern ist es für ein bislang im Zeichen der Völkerverständigung stehendes Turnier nicht verkehrt, dass die Türkei erhobenen Hauptes ausgeschieden ist. Die ohnehin schwierigen deutsch-türkischen Beziehungen sind durch die Causa „Wolfsgruß“ nicht einfacher geworden, obwohl der sportliche Auftritt isoliert betrachtet nur Respekt verdient hat. „Wir haben unsere Fans enthusiastisch gemacht, denn wir haben mit richtiger Leidenschaft gespielt“, betonte Nationaltrainer Vincenzo Montella.

Der für seine Menschenführung geschätzte Italiener hätte Lust, diese noch nicht am Limit angelangte Nationalelf auch in der Nations League in die oberste Kategorie und zur WM 2026 zu führen. Das dürften viele gerne gehört haben. Zum leidigen Thema wollte er nichts sagen: „Es ist kompliziert. Ich habe nicht den Willen, über Dinge zu sprechen, die nicht zum Fußball gehören.“

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