EM-Kolumne "Trinkpause"

Goethe und der Autokorso

Autokorsos sind bei dieser EM fast schon an der Tagesordnung. Wie schon eins Goethe über das Phänomen philosophierte

Von 
Alexander Müller
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dpatopbilder - 18.06.2024, Berlin: Fußball, EM, Türkei - Georgien, Vorrunde, Gruppe F, 1. Spieltag: Fans der türkischen Fußball-Nationalmannschaft feiern den Sieg ihrer Mannschaft bei einem Autokorso. Foto: Christoph Soeder/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ © dpa

Wir Sportredakteure sehen uns manchmal dem selbstverständlich völlig unberechtigten Vorwurf ausgesetzt, ein wenig einfacher gestrickt zu sein. Mit intellektuellen Defiziten, über den thematischen Tellerrand des Spielfeldes hinausschauen zu können. 1:0-Idioten. Diese unflätige Unterstellung gilt es dringend zu entkräften.

Deshalb beginnen wir diese EM-Kolumne einmal mit Hochkultur. Obacht: mit Johann-Wolfgang von Goethe, einem der größten Dichter unseres Landes. „Fahren die Kutschen nach und nach in den Korso hinein, in derselben Ordnung, wie wir sie oben beschrieben haben, als von der sonn- und festtägigen Spazierfahrt die Rede war, nur mit dem Unterschied, daß gegenwärtig die Fuhrwerke, die vom venezianischen Palast an der linken Seite herunterfahren, da, wo die Straße des Korso aufhört, wenden und sogleich an der andern Seite wieder herauffahren“, beschrieb Goethe einmal das, was wir in diesen Tagen auch bei der Fußball-EM regelmäßig erleben dürfen.

Sind Sie nach diesen Schachtelsätzen aus erlesener Feder noch bei mir? Es geht natürlich um die Frühform des Autokorsos, der zu Goethes Zeiten noch nicht mit tiefergelegten Golf GTI und angejahrten 3er BMW, sondern mit geschmückten Kutschen und Equipagen zelebriert wurde. Damals gab es auch noch keine Hupen, und das macht – wie die Anwohner von Hauptstraßen in den Innenstädten der Republik zu berichten wissen – einen gewaltigen Unterschied. Beim Lärmpegel.

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Denn während der gemeine deutsche Fußball-Fan dazu neigt, seine Euphorie über Siege der DFB-Elf mit alkoholischer Druckbetankung zu dokumentieren, greifen unsere türkischstämmigen Mitbürger direkt nach dem Abpfiff ans Steuer. Dann geht es, die rote Fahne mit dem Halbmond aus dem Fenster gestreckt, hupend und jubelnd mit dem Auto in die nächstbeste City.

Das mag manche nerven, aber bitte: Fußball-Europameisterschaft in Deutschland ist nur einmal alle 30 Jahre. Wenn überhaupt. Da darf man auch schon einmal ein bisschen toleranter sein, wenn es draußen nächtens ein bisschen lauter wird.

Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn alle Anhänger der Türkei am Samstagabend, nach einem Sieg im Viertelfinale gegen die Niederlande, wieder die Straßen in der Stadt zum Läuten bringen würden. Denn ohne die in verschiedensten Ausprägungen gelebte Begeisterung der Fans wäre diese EM nur noch ein steriles, freudloses Fußballturnier. Und das kann doch wirklich niemand wollen.

Redaktion Fußball-Reporter: Nationalmannschaft, SV Waldhof, Eintracht Frankfurt, DFB

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