Mannheim. Kränkeln die Deutschen häufiger oder machen sie einfach mehr blau? Im ersten Halbjahr 2024 waren die Beschäftigten jedenfalls so lange wie noch nie in diesem Zeitraum krankgeschrieben. Im Schnitt fehlten die bei der Techniker Krankenkasse (TK) Versicherten 9,6 Tage am Arbeitsplatz. Das toppt sogar den Rekord vom ersten Halbjahr 2023. Damals waren es 9,5 Fehltage pro Kopf. Zum Vergleich: 2019 lag der Krankenstand bei 7,8 Fehltagen, im ersten Coronahalbjahr 2020 beliefen sie sich auf 7,9. Aber auch die Zahl der Krankmeldungen ist stark gestiegen: Nach Angaben der Krankenkasse KKH kamen hundert erwerbstätige Mitglieder auf 210 Krankheitsfälle. Jedes Mitglied war also mehr als zweimal krankgeschrieben.
Woran liegt das? Die FDP macht die telefonische Krankmeldung dafür verantwortlich. Finanzminister Christian Lindner plädiert für ihre Abschaffung. Er wolle niemandem vorwerfen, die Regelung auszunutzen. Es gebe aber „eine Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme, die als guter Bürokratieabbau gedacht war“. Auch die Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA) fordert eine Abschaffung der telefonischen Krankmeldung. Der Ludwigshafener Chemiekonzern BASF sieht das aber zum Beispiel anders. „Aus unserer Sicht kann die telefonische Krankschreibung eine sinnvolle Ergänzung darstellen“, heißt es auf Anfrage. Das Unternehmen verzeichnet nach eigenen Angaben zwar in den letzten Jahren beim Krankenstand eine tendenzielle Erhöhung, führt dies aber „auf das deutlich steigende Durchschnittsalter der Belegschaft“, die häufiger an Langzeiterkrankungen leiden würde.
Keine einheitliche Datenbasis bei Krankmeldungen
Die Bundesregierung hat inzwischen versprochen, dass sie die telefonische Krankschreibung überprüft. Die Möglichkeit war 2020 während der Pandemie eingeführt worden. Im Dezember 2023 beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Kliniken eine dauerhafte Regelung. Sie gilt nur für Patienten, die in der Praxis bekannt sind und keine schweren Symptome haben.
Das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hat jetzt in einer aktuellen Studie nach den Ursachen für den Anstieg der Fehlzeiten seit 2022 gesucht. Ein Problem dabei: „In Deutschland gibt es keine einheitliche Datenbasis, die Fehlzeiten nach Krankheitsdauer vollständig erfasst“, sagt ZEW-Forscher Nicolas Ziebarth. Viele Berichte beruhen deshalb auf Daten einzelner Krankenkassen. Außerdem müssen sich die meisten Beschäftigten in den ersten drei Tagen nicht krankmelden, Diese Fehlzeiten werden in der Regel nur sehr beschränkt erfasst.
Studienautor Ziebarth sieht in der telefonischen Krankmeldung nicht die Hauptursache für die gestiegenen Fehlzeiten. „Wäre sie die treibende Kraft gewesen, würde man einen Anstieg der Fehltage seit 2020 erwarten, kombiniert mit einem Rückgang der Fehlzeiten 2023 aufgrund des zeitweisen Auslaufens der Regelung. Außerdem darf die telefonische Krankschreibung nach Ziebarths Angaben nur „einmalig für bis zu fünf Werktagen ausgestellt werden“, danach müssen die Beschäftigten zum Arzt. Während der Pandemie konnten die Patienten sogar sieben Tage zu Hause bleiben.
Fehltage werden seit 2022 besser statistisch erfasst
Der ZEW-Forscher führt die Zunahme der Krankschreibungen in erster Linie auf eine verbesserte statistische Erfassung der Fehltage und dabei vor allem auf die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zurück, die den gelben Zettel abgelöst hat.
„Die Art und Weise, wie Arbeits-unfähigkeitstage erfasst werden, hat sich seit Januar 2022 deutlich verbessert. Der Großteil des Anstiegs ist auf die elektronische Erfassung der Krankmeldungen zurückzuführen“, sagt Ziebarth. Vor 2022 wurden von den Krankenkassen nämlich nur solche Fehlzeiten erfasst, die per gelbem Schein von den Versicherten und ihren Arbeitgebern gemeldet worden sind. „Es ist somit davon auszugehen, dass die wahren Fehlzeiten vor 2022 deutlich untererfasst worden sind, gerade bei leichteren Atemwegserkrankungen.“
Dafür spricht nach Ansicht des Mannheimer Forschers auch, dass der Anstieg der Fehlzeiten vor allem durch Krankheitsdauern zwischen vier und 14 Tagen getrieben sind. Deren Anteil an den Gesamt-Arbeitsunfähigkeitstagen hat sich demnach mehr als verdoppelt.
Für wahrscheinlich hält es Ziebarth, dass auch starke Erkältungswellen sowie ein bewussterer Umgang mit Atemwegserkrankungen nach der Pandemie dazu geführt haben, dass die Zahl der Fehltage gestiegen ist. „Während der Pandemie wurden die Beschäftigten aufgefordert, nicht mit Krankheitssymptomen zur Arbeit zu gehen. Es ist plausibel, dass viele auch heute noch eine solche Vorsicht an den Tag legen“, sagt der Wissenschaftler. Allerdings meint er, dass die Beschäftigten auch im Gespräch mit dem Arbeitgeber ausloten könnten, ob Homeoffice oder das Tragen einer Maske möglich sei. „Firmen sollten prüfen, ob sie die Bereitschaft dazu mit „Anwesenheitsprämien“ belohnen wollen“, sagt Ziebarth.
Kürzung der Lohnfortzahlung wäre ein zweischneidiges Schwert
Ziebarth macht allerdings auch keinen Hehl daraus, dass hinter einerbestimmten Zahl von Krankmeldungen auch „Blaumacherei“ steckt. „Die Unternehmen sollten die Beschäftigten über die strafrechtlichen Tatbestände - zum Beispiel eine fristlose Kündigung - hinweisen.“ In diesem Zusammenhang hält er es auch für überlegenswert, den medizinischen Dienst und dessen Möglichkeiten zur Erstellung eines Gutachtens bei Arbeitsunfähigkeit auszuweiten.
Klar ist aber auch: Bereits vor dem Anstieg 2022 verzeichnete Deutschland eine der weltweit höchsten Fehlzeiten. Das liegt daran, dass bei uns ein Beschäftigter bei Krankheit sechs Wochen lang Anspruch auf die volle Lohnfortzahlung vom ersten Tag an gibt. Weniger Lohnfortzahlung führt - das hat die Forschung nachgewiesen - zu weniger Fehlzeiten. Vorteil: Es würden weniger blaumachen oder sich bei leichteren Erkrankungen krankmelden. Nachteil: Es würden dann auch mehr Menschen krank zur Arbeit gehen und andere anstecken.
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