Mannheim. Bekanntlich ergeben Teil-Wahrheiten nicht unbedingt die ganze Wahrheit. Ja, in der Kurpfalzmetropole hat Fritz Huber den „Lanz Bulldog“ ausgetüftelt. Und ja, der 1921 präsentierte welterste Rohölschlepper sollte die Landwirtschaft prägen. Aber nein, der Traktor ist nicht in Mannheim erfunden worden. Schließlich gab es schon davor „motorisierte Ackergäule“, beispielsweise den „Waterloo Boy“. Angestoßen von dem Hinweis eines kenntnisreichen Bürgers und der Recherche unserer Zeitung hat die Stadt auf ihrer Webseite Aussagen zum Bulldog „präzisiert“, so der Rathaussprecher. Spurensuche nach einem Mythos mit Eigendynamik.
Unbestritten darf sich Mannheim als Erfinderstadt rühmen. Obendrein als Wegbereiterin der Automobilität. Karl Drais wollte eine Fortbewegungsmöglichkeit etablieren, die ohne hungrige Rösser auskommt. Vom Winde verwehter Vulkanstaub der Eruption des fernen Tambora hatte nämlich auch hier das Klima verändert, was 1816/17 zu Missernten samt Tierfuttermangel führte. Die Drais‘sche Laufmaschine als erstes Zweirad benötigte statt Hafer lediglich menschliche Wadenkraft. Und das sieben Jahrzehnte später von Carl Benz konstruierte Benzinmotor-Gefährt sollte gar ohne Muskelanstrengung auskommen.
1921: Ein besonderes Jahr für Lanz
Dass mit der „Benzin-Kutsche“ der „motorisierte Ackergaul“ kommen würde, war nur eine Frage der Zeit. Auch in den USA, dem Land der Großfarmen, machten sich Ingenieure daran, Feldarbeit zu technisieren. Zunächst mit monströsen Dampfmaschinen. Den ersten benzinbetriebenen Traktor brachte John Froelich, Sohn deutscher Einwanderer, um 1885 heraus - anno 1892 patentiert. Die in Iowa angesiedelte Produktionsstätte Waterloo Gasoline Engine verkaufte Froelich 1918 an Deere & Company, bekannt für den ersten selbstreinigenden Stahlpflug. Mit dem „Waterloo Boy“ sollte Deere in die Traktoren-Branche einsteigen. Und das bekanntlich supererfolgreich.
Das US-Unternehmen mit dem „springenden Hirsch“ dürfte auch ohne seinerzeitige Marktpräsenz in Europa die dortige Konkurrenz beobachtet haben. Beispielsweise den Landmaschinenhersteller Heinrich Lanz in der aufstrebenden Industriestadt Mannheim. Dass Deere Jahrzehnte später, 1956, dieses Unternehmen übernehmen würde, war in den 1920ern vermutlich so unvorstellbar wie ein (inzwischen) von smarter Hightech-„Geisterhand“ gesteuerter Mähdrescher.
Für Lanz sollte 1921 ein besonderes Jahr werden: Der bei der Landwirtschaftsausstellung in Leipzig präsentierte Rohölschlepper mit Glühkopfmotor und zwölf PS war nicht nur Weltneuheit, sondern konnte mit nahezu jedem Treibstoff, auch billigem heimischen Pflanzenöl, „gefüttert“ werden. Der Name Bulldog, ursprünglich Spitzname wegen der an eine Bulldogge erinnernden Form, brachte es im Laufe der Jahre gar zum Inbegriff für Traktoren schlechthin. Was bei der Marktdominanz in Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg keineswegs verwundert.
Bulldog ist jetzt „Meilenstein in der Geschichte der Mechanisierung der Landwirtschaft
Dass Marken zu Gattungsbezeichnungen mutieren, ist gar nicht so selten: So steht Tempo für Papiertaschentücher, Uhu für Klebstoff, Google für Internetsuchmaschinen. Vermutlich hat dieses Sprach-Phänomen dazu beigetragen, dass Mannheim mit dem ersten Rohölschlepper gewissermaßen die Erfindung des Traktors untergepflügt hat. Historiker Ulrich Nieß weiß, dass moderne Zugmaschinen, insbesondere der Lanz-Schlepper, „gemeinhin Traktoren genannt werden“. Freilich wird in keinem der Beiträge, die das Archiv der Stadt Mannheim dem Bulldog gewidmet hat, dieser als erster Traktor bezeichnet, wie Markus Enzenauer vom Marchivum betont.
Gleichwohl verbreitete die Stadt bis vor wenigen Tagen: Neben Zweirad und Auto habe auch der Traktor in der Kurpfalzmetropole seinen Anfang genommen. Dementsprechend wurde auf der Webseite „Mannheimer Erfindungen“ die Präsentation des Lanz Bulldogs 1921 bei der Leipziger Landwirtschaftsmesse mit der „Geburtsstunde des Traktors“ gleichgesetzt, der „von Mannheim aus“ seinen „Siegeszug um die Welt“ angetreten habe. Dabei gab es damals in den USA nicht nur den„Waterloo Boy“, sondern auch den „Fordson“ (ab 1917 von Henry Ford). Außerdem hatte die Münchner Motorenfabrik Sendling 1909 einen Ackerschlepper mit Benzol-Motor herausgebracht.
Solcherart Unterpflügen historischer Fakten nervt Gert-Peter Schulz, Ur-Mannheimer, Makler für technische Versicherungen, begeisterter Traktor-Schrauber und Kenner der Szene mit Kultstatus, schon lange - weshalb er sich unlängst aufklärend ans Rathaus gewandt hat. Obendrein beschäftigte sich unsere Zeitung mit dem Acker-Mythos samt Wildwuchs. Dieser soll freilich nicht weiter wuchern. Jedenfalls hat die Stadt Mannheim ihre Erfindungen-Webseite überarbeitet und rühmt den Bulldog nicht mehr als „Geburtsstunde“, sondern als „Meilenstein in der Geschichte der Mechanisierung der Landwirtschaft“.
Und wie geht John Deere mit der Traktor-Geschichte um? Pragmatisch! 2018 feierte das Unternehmen den damals 100 Jahre zurückliegenden Einstieg in die Branche und damit die Produktion des „Waterloo Boy“. Und 2021 kam der Lanz Bulldog anlässlich dessen 100. Geburtstages groß heraus: als „Mannheims bekanntester Hund“ und „Grundstein für die Traktorfertigung im Mannheimer Werk“. Deere-Sprecher Ralf Lenge: „Global gesehen ist der Traktor eine amerikanische Erfindung.“ Aber mit der Übernahme des Werks in Waterloo sei dieser auch „Teil unserer Firmengeschichte“ geworden. Und damit des Mannheimer Werks (vormals Lanz), wo im März 2023 der zweimillionste Schlepper vom Band ging.
Abschließend gilt festzuhalten: Ob Geburtsstunde oder Meilenstein der Traktorentwicklung - Mannheims Bulldog ist und bleibt legendär.
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