Mannheim. Frau Taha, erst mal Glückwunsch. Ganz Mannheim soll Ihr Buch lesen. Selbst wenn es nur zehn Prozent täten, wären das auf einen Schlag 30 000 Leser mehr für Sie. Wie fühlt sich das an?
Karosh Taha: Das klingt großartig, ich freue mich natürlich sehr darüber.
Wie hat sich ihr Buch bislang verkauft?
Taha: Nicht gut. Deswegen freue ich mich auch über die Aktion.
Es gibt ja auch noch den Nachfolge-Roman „Im Bauch der Königin“. Können Sie eigentlich mittlerweile von der Literatur leben?
Taha: Ja, ich kann davon leben. Das ist die erste Frage, die ich zu hören bekomme, wenn ich jemandem erzähle, dass ich freie Schriftstellerin bin. Die Frage deutet auf einen Missstand hin - dass der nicht behoben wird, ist für mich nicht verständlich.
Was wäre Ihr Ansatz?
Taha: Mehr Förderung, längerfristige Stipendien nach dem Vorbild des Deutschen Literaturfonds, unbürokratischere Bewerbungen.
Die „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ ist ein Stück weit eine wilde Coming-of-age-Geschichte über Sanaa, ihre Familie und das soziale Umfeld. Immer wieder tauchen die Krabben dort auf - in der Fantasie Sanaas. Wie sind die da reingeraten? Stehen sie für die Kindheitserinnerungen im Irak?
Taha: Dem Haupttext des Buches ist ein Zitat von Sanaa vorangestellt; darin behauptet sie, die Geschichte basiere auf Tatsachen aus ihrer Erinnerung. Es geht also vordergründig um den Konflikt zwischen einer faktischen Vergangenheit und der fiktionalen Erinnerung, wie eine Familie sich an ihre Vergangenheit erinnert, welche Erinnerungen in welcher Form tradiert werden. Die Krabben spielen deswegen eine wichtige Rolle, weil die Krabbe als Metapher eine Verbindungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erzählung und Erinnerung darstellt.
Warum Krabben? Wegen des seitlichen Krebsganges?
Taha: Ich weiß es wirklich nicht - dabei ist die Krabbe das tragende Symbol. Ein Kollege hat mich auf all die im Roman auftauchenden Tiere aufmerksam gemacht, eine Poetik der Zoologie. Das Buch habe ich 2012 begonnen, das sind jetzt genau zehn Jahre her, an all meine poetologischen Entscheidungen kann ich mich nicht erinnern, ich könnte sie nur im Nachhinein wie eine Leserin interpretieren. Als Leserin geht für mich das Bild der Krabbe auf.
Haben Sie selbst eine besondere Beziehung zu den Tieren?
Taha: Nein. Ich fand damals wie heute den Panzer, die Schale, wie man es nennen mag, faszinierend. Bei einer Lesung in Hamburg gab mir ein Herr einen Zeitungsartikel über Krabben. Mir wird also die Krabbe als biologisches Wesen aufgedrängt, aber mich interessiert nicht die biologische Krabbe, sondern nur die fiktive, nur als Symbol. Im Buch existiert die Krabbe nicht als tatsächliche Krabbe. Denn die tatsächlichen Krabben, die am Xabur in Kurdistan, in Zaxo damals vor mehr als zwanzig Jahren, lebten, die ich gesehen habe, waren grau, nicht rot. In einer Szene stellt sich Asija riesige Krabben als Reittiere in der Wüste vor.
Sie waren ziemlich genau 30 Jahre alt, als das Buch 2018 erschien, Sie waren Gymnasial-lehrerin und hatten mit Jugendlichen zu tun. Würde Sanaa, die ja studiert, im echten Leben auch Lehrerin?
Taha: Ich weiß nicht, welchen Beruf Sanaa ergreifen würde. Vielleicht wird sie Schriftstellerin, schließlich kann sie ja ziemlich gut erzählen.
Karosh Taha
- Die Autorin: Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo im Irak geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet. Sie absolvierte ein Lehramtsstudium und lehrte danach Englisch und Geschichte an einem Essener Gymnasium. Die Lehrtätigkeit gab sie nach und nach auf, nachdem ihr Debütroman erschienen ist. Taha erhielt für ihr Werk bereits zahlreiche Stipendien und Preise, darunter das Stipendium Deutscher Literaturfonds, den Hohenemser Literaturpreis und die Alfred-Döblin-Medaille.
- Die Literatur: „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ über die in einem Hochhaus lebende Studentin Sanaa erschien 2018 bei DuMont (Hörspielfassung 2021 bei WDR3 und COSMO). Ihr zweiter Roman „Im Bauch der Königin“ über die gesellschaftlichen Außenseiter Amal, Younes und Shahira erschien 2020.
Das Lehren haben Sie aufgegeben. Ich gehe mal davon aus, zugunsten der Literatur und des Schreibens. Aber Sie kennen ja Schule und Schülerinnen und Schüler sehr gut. Ist „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ ein Buch, das sich für den Schulunterricht eignet?
Taha: Es kommt immer darauf an, wie die Lehrperson das Buch unterrichtet. Ich erinnere mich daran, dass wir in der achten Klasse H. P. Lovecraft und Edgar Allen Poe gelesen haben, das ist auch nichts für Achtklässler, aber mein Deutschlehrer hat es geschafft, uns dafür zu begeistern.
Sie beschreiben recht ausführlich das Sexualleben Sanaas und auch, wie sie ihrer kleineren Schwester, mit der sie ein Zimmer teilt, zwangsläufig nachts beim Masturbieren zuhört. Sind das Themen, die Ihrer Meinung nach zu sehr tabuisiert sind - auch bei jungen Menschen?
Taha: Ich weiß nicht, ob es ausführlich ist. Aber für die gegenwärtige Prosa wahrscheinlich schon; die meisten scheuen sich vor Sexszenen, vor expliziten Beschreibungen, aber ob das aufgrund eines Tabus ist, bezweifle ich. Ich kann nicht sagen, ob das Thema bei Jugendlichen tabuisiert ist, dafür müsste ich mit genügend Jugendlichen sprechen.
„Der Roman behandelt aktuelle gesellschaftliche Themen wie Krieg, Flucht und Migration und geht gleichzeitig auf provokante Art mit Themen wie Sexualität oder Gewalt um. Diese Mischung aus inhaltlicher Relevanz und ästhetischer Gestaltung hat uns überzeugt, dass Tahas Roman ein geeignetes ‚Buch der Stadt’ ist“. So lautete unter anderem die Begründung, Ihr Buch zu nehmen. Wollten Sie ursprünglich etwas mit dem Roman „erreichen“, gibt es darin so etwas wie eine Botschaft?
Taha: Ich hatte kein gesellschaftlich-politisches Ziel mit dem Buch, ich habe es aus rein egoistischen Gründen geschrieben - um die Geschichte, die Themen und die Figuren, die mich seit Jahren beschäftigten, aufs Papier zu bannen und sie loszuwerden, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich wollte vor allem Schriftstellerin werden und hätte es nicht für möglich gehalten, mit diesem Buch als Schriftstellerin akzeptiert und aufgenommen zu werden. Der dritte Grund, der erst später wichtiger wurde, ist der gewesen: Ich habe in der deutschsprachigen Literatur Menschen wie Sanaa und ihre Konflikte vermisst, ich sah diese riesige Lücke und wusste nicht, dass ausgerechnet mein Buch dazu beitragen kann, etwas davon auszufüllen.
Tatsächlich gibt es jetzt schon einiges an Literatur, die manchmal als trans- oder interkulturell bezeichnet wird, dann wieder als migrantisch oder als deutsche Literatur von Autoren mit migrantischem Hintergrund. Ich denke da an Ilia Trojanow, Sascha Stanisic, Jagoda Marinic, Feridun Zaimoglu oder, wahrscheinlich der populärste, Wladimir Kaminer. Finden Sie es schlimm, wenn Sie in so einer Schublade landen?
Taha: Ich finde es nicht schlimm, neben diesen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aufzutauchen - ich finde es schlimm, wenn es als Schublade bezeichnet wird. Ich habe einen Essay zu dem Thema geschrieben, und für mich ist klar: dass selbst die Frage danach - auch die vermeintliche Reflexion der Frage, die eine Wertung beinhaltet, nämlich wie „schlimm“ ich es denn finde, um mich eben doch dazu zu nötigen, zu dem Thema „Migrantenliteratur“ Stellung zu beziehen, nur zu weiteren Verstrickungen führt. Wenn weiße Deutsche es nicht ertragen, dass jemand mit dem Namen Karosh Taha deutschsprachige Literatur schreibt, erfinden sie eben eine Schublade, um sie von der deutschsprachigen Literatur fernzuhalten. Es ist ein Ausschlusskriterium, was für viele Kolleginnen, um auf eine Ihrer früheren Fragen zurückzukommen, ökonomische Konsequenzen hat.
Ich will nur anmerken, dass diese Schublade nicht von mir stammt und ich Sie da nicht hineingelegt habe. Sie haben gesagt, dass Sie in der deutschsprachigen Literatur Menschen wie Sanaa vermisst haben. Ihre Geschichte kann eben nun mal nur von Ihnen mit Ihrem Hintergrund erzählt werden, genauso wie Marinics Geschichten nur von ihr erzählt werden können, weil sie diesen einen Background hat. Der Markt sucht sich immer Labels, Julia Franck, Judith Hermann oder Juli Zeh wurden auch mal als „Fräuleinwunder“ bezeichnet …
Taha: … ja, und wie peinlich ist es im Nachhinein, und wie sexistisch ist es, dass man junge Frauen als Fräuleinwunder betitelt hat, ein Wunder, dass Frauen schreiben können, gut schreiben können, auch das schreckliche „Fräulein“. Mag sein, dass „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ nur von mir geschrieben werden konnte, aber genauso gut konnte „Mein Name sei Gantenbein“ nur von Max Frisch geschrieben werden, „Beloved“ nur von Toni Morrison und „Schuld und Sühne“ nur von Dostojewski. Wenn Sie meinen Hintergrund als Grund für meine Literatur anführen, dann werde ich austauschbar, und dagegen wehre ich mich. Nur ich konnte „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ schreiben, nicht, weil ich Kurdin bin, sondern weil ich Kurdin bin, Frau bin, zu dem Zeitpunkt ein bestimmtes Alter hatte, zu dem Zeitpunkt bestimmte Erfahrungen gesammelt, bestimmte Gedanken gedacht und Gefühle hatte.
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