Grischa Tannberg aus Gera ist ein guter Genosse. Das hat er von seinen Funktionärseltern mitbekommen. Die Armeezeit hat er hinter sich und ein Studium der Ökonomie. Als einer der besten Absolventen des Jahrgang 1981 beginnt er nun seine Laufbahn bei der Staatlichen Plankommission der DDR. Deswegen zieht er nach Berlin. Das ist gleich doppeltes Glück, denn Berlin ist ein heißes Pflaster, „die erste Stadt des Westens, die noch im Osten lag“. Die Plankommission residiert über fünf Stockwerke, die etagenweise nach den Aufgabenbereichen geordnet sind: Industrie, Landwirtschaft, Sowjetunion, RGW und kleine Bruderländer. Weil Letztere am wenigsten wichtig sind, sitzt ihre Behörde oben. Angola, Mosambik, Chile usw. heißen die wenigen Kandidaten, wobei sich Grischa um Afghanistan kümmern soll.
Im Niemandsland entsteht ein Kiosk für Medizinalhanf
Dessen Präsident Babrak Karmal wurde 1979 mit sowjetischen Gnaden als Staatschef eingesetzt und hat als solcher auch mal die DDR besucht. Da hatte er viele Wünsche, ohne jedoch selbst etwas anbieten zu können. Nur die Landwirtschaft hatte gute Erträge und lange Tradition, doch standen deren Produkte Cannabis und Schlafmohn jenseits der Grenzen auf dem Index. Eine Situation, aus der Bereichsleiter Ralf Burg eine Haupttätigkeit für seine Abteilung abgeleitet hat: kunstvolles Warten, am besten in der Kantine. Weil er aber weiß, dass er seinem intriganten, trinkfesten und unfreundlichen Chef Gerhard Schürer Aktivität vortäuschen muss, beantragt er eine weitere Planstelle. So kommt Grischa ins Spiel.
Der bringt mit seinem Fleiß die fünfte Etage auf Trab und durcheinander, indem er einen folgenreichen Afghanistan-Plan erdenkt. Koffein, Nikotin und Alkohol sind auch erlaubt, und überhaupt legt ja jedes Land selbst fest, was geht und was nicht. Also entsteht nach einem Besuch vor Ort im Niemandsland der Westberliner Grenze, wo sonst die Autos kontrolliert werden, ein erster Verkaufskiosk für Medizinalhanf. Höchster Segen wird erteilt, weil hier das Interesse am Sozialismus wächst, der Westen entgegen seiner verkündeten Freiheit zu Grenzkontrollen gezwungen wird und die DDR zudem Devisen aus dem Handel plus Mindestumtausch verdient. Die Nachfrage explodiert und treibt kuriose Blüten, die Jakob Hein in seinem Roman mit komödiantischem Gespür auf neue Spitzen treibt.
Hein gibt eine verblüffende Antwort auf eine offen gebliebene Frage
Es gibt derzeit ein zunehmendes Literaturinteresse an der DDR, gerade auch bei einer jüngeren Autorengeneration. Die muss sich dann die Realitätschecks der Älteren gefallen lassen. In diese Gefahr begibt sich Hein mit seiner kühnen Konstruktion nicht. Aus ein paar realen Eckdaten und viel Fantasie destilliert er seine handlungspralle Chronologie der immer absurder werdenden Ereignisse. Und im großartigen Finale gibt er noch eine verblüffende Antwort auf eine bis heute offen gebliebene deutsch-deutsche Frage: Was bewog einen konservativen Politiker wie Franz Josef Strauß dazu, mit einem Milliardenkredit das Leben der da schon im wirtschaftlichen Absturz befindlichen DDR zu verlängern?
Jakob Hein: „Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste“. Roman. Galiani, Berlin. 252 Seiten. 23 Euro.
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