Schwetzingen. Auf den ersten Blick wirkt es ja schon ein bisschen unrund, wie in Schwetzingen die diesjährigen SWR-Festspiele anlaufen. Vor Wochen war bereits verkündet worden, dass die Opernuraufführung (Isabel Mundrys Stück „Im Dickicht“) nicht mehr rechtzeitig zu stemmen sei. Die kleine Pointe dabei ist, dass diese Uraufführung „eigentlich“ schon vor zwei Jahren terminiert war. Die Verspätung also nicht ganz unerheblich ausfällt, weil die Komponistin offenbar an einer ernsten Schreibblockade laboriert. Und kurzfristig fiel auch der Liederabend aus, der als Eröffnung dienen sollte: Sänger Georg Nigl musste sich kurzfristig krankmelden.
Werner Güra springt ein
Derlei passiert natürlich. Ausgesprochen schade ist es deshalb, weil der Bariton schon lange, ehe die Veranstalter in Schwetzingen das Motto „Vanitas“ zum Leitfaden bestimmt hatten, auf einer preisgekrönten Plattenaufnahme das Thema hochsensibel abarbeitete. Mit Liedern Schuberts, Beethovens und Rihms. Das Schwetzinger Ersatzprogramm ist freilich hochkarätig: Werner Güra (Bild) singt die „Winterreise“. Diese ist natürlich gleichfalls mit besagter „Vanitas“, mithin der alten, bereits in der Bibel etablierten Vorstellung von der Vergänglichkeit, Vergeblichkeit der irdischen Bestrebungen, voll kompatibel.
Und im vollbesetzten Mozartsaal des Schlosses malt vor allem auch der Pianist in diesem Liederabend wahre Schreckensbilder. Gerold Huber tut das großformatig und mit derart tiefen Abgründen, dass aus den Bildern fast Skulpturen werden. „Kalte Winde“ stuft er als Orkane ein. Und wenn die Krähen, wie im Text zu „Rückblick“, Schneebälle zu werfen scheinen, klingt es so, als wollten sie dem Wanderer die Augen aushacken.
Erinnerung an Hitchcocks „Vögel“
Man könnte fast an Alfred Hitchcocks Horrorklassiker „Die Vögel“ denken. Das ist mehr als nur Klavierbegleitung. Aber Gerold Huber reizt nur aus, was in den Noten steckt. Er übertreibt nicht. Dennoch zeigt er fast noch deutlicher als im Zusammenspiel mit Christian Gerhaher, der sonst „sein“ Sänger ist, was in ihm steckt.
Diesmal steht Werner Güra vorne an der Rampe. Er ist Ende 50, doch das hört man seinem hellen, völlig ausgeglichenen Tenor nicht an. Er kann den „schauerlichen Liedern“ Schuberts eine unerhörte Grazie geben, nicht allein dem „Lindenbaum“, vor dem er wie vor einem Kunstlieddenkmal eine kleine Weile innehält.
Aber über sein Timbre huschen eben auch genau dosierte Trübungen, Verdunkelungen, Aufrauhungen. In den „Nebensonnen“ dringt der Schwächeanfall einer Hörerin im Publikum in Güras Umlaufbahn. Aber er bringt den Zyklus bravourös zu Ende. Es setzt Ovationen.
Ein paar Säle weiter folgt dann noch zu später Stunde „Vanitas“ von Salvatore Sciarrino. Es ist fast noch zeitgenössische Musik, aber auch sie begeistert ihre Zuhörer. Eine Art Liederzyklus, komponiert für Stimme, Cello und Klavier. Die Textvorlagen kommen aus zum Teil entlegenen Gebieten, selbst der frühbarocke deutsche Dichter Martin Opitz ist vertreten. „Vanitas“, ein frühes Hauptwerk von Sciarrino, zeigt schon die fragile Expressivität, die diesen Komponisten auszeichnet. Altistin Noa Frenkel gibt eine Sirene des Verschwindens. Und geradezu berühmt ist das vom Cello auszuführende lange Glissando zum Finale. Von Martina Schucan wird es wie ein zarter Luftzug inszeniert. Klingt so die Ewigkeit? Oder das absolute Nichts?
Mahler-Schwerpunkt überzeugt
Auch die weiteren Programmpunkte des Auftaktwochenendes überzeugten überwiegend. Allerdings gibt es Tage, da weiß der (so genannte) Kritiker nicht, wo der Unterschied zwischen subjektivem Empfinden und objektivem Hören liegen könnte. Da knallt einem der Bass-Bariton Dietrich Henschel Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“ dermaßen Silben betont, quasi Stakkato, um die Ohren, dass einem das gewohnte Gefühl abhanden kommt. Ja, diese Stimme hat Kraft und Mächtigkeit, mag durch Eigenwilligkeit bestechen oder verwundern, erzeugt aber auf jeden Fall zwiespältige Gefühle.
Nüchtern kontrollierter Zugang
Doch nicht jeder Abend muss unbedingt Glückshormone ausschütten. Eher in diese Richtung zielt die (Mezzo)Sopranistin Sarah Maria Sun, die wechselseitig mit Dietrich Henschel die Mahler-Lieder sang. Frau Sun wurde vor allem als außerordentlich engagierte Interpretin zeitgenössischer Musik bekannt; ihre Stimme hat zuweilen silbrigen Glanz und taucht in die individuelle Aura des Komponisten ein.
Doch auch in den gleitenden Phrasen schleicht sich so etwas wie nüchtern-kontrollierter Zugang ein, der Emotionalität zu bremsen scheint. Peter Rundel dirigierte im ausgebuchten Rokoko-Theater das SWR Symphonieorchester, das die Wunderhorn-Lieder in der Fassung von Klaus Simon für 16 Instrumentalisten vorstellte: mit extremen Farbwechseln und bildhaften Textdeutungen.
Gute Fleißarbeiten
Als Rahmen spielte das Kammerorchester die Klaviersonate von Leos Janacek in einer orchestrierten Fassung von Reinbert de Leeuw, , sowie „Sechs Deutsche Tänze“ von Franz Schubert, ebenfalls orchestriert, in diesem Fall durch Anton Webern. Gute Fleißarbeiten, ohne neue Dimensionen für ein renommiertes Festival-Programm zu erschließen. Die originalen Klavierfassungen als Referenz wären zum Beispiel eine Idee gewesen.
Quatuor Modigliani mit etwas Neuem im Gepäck
„Ein Quartett, das sind vier Musiker und trotzdem ein Klang“, schreibt der Komponist Jean-Frédéric Neuburger, und das gilt besonders für das Quatuor Modigliani, wenn die vier Streicher das Neuburger-Stück „high altitude“ bei den SWR-Festspielen uraufführen. Denn das klanglich außergewöhnliche Werk bevorzugt Flageolett-Technik als Grundlage, die in fahler, leicht flirrender Homophonie feinst gewobene, intime Schwebezustände auslöst. Bilder von Ferne und Entrücktheit werden aus engem Tonraum entworfen, sie imaginieren Spiritualität, oder gemahnen an Zerbrechlichkeit. Eigenwillig gefertigt, was die Interpreten zu besonderer Zuwendung anspornte. Das Publikum bereitete der Musik einen herzlichen Empfang.
Veredelter Schwung
Freundliche Mimik schenkte Quatuor Modigliani zuvor dem Streichquartett in G-Dur (op. 54/1) von Joseph Haydn, in veredelt-musikantischem Schwung serviert. Mit hoher Spielkultur erschien das Werk ebenso dem Leben zugewandt wie auch die „Italienische Serenade“ von Hugo Wolf; voll rhythmischer Frische und Vitalität. Zum Ausklang spielten die Gäste das „Rosamunde-Quartett“ von Franz Schubert in hochherzig-intensivem Stil.
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