Meine Kinder haben eine neue Leidenschaft: den Weitsprung. Wenn nicht im Stadion, trainieren sie daheim. Absprung von der Terrasse und dann soweit wie möglich auf dem Rasen landen. „Sieht waghalsig aus“, denke ich beim Zusehen, „aber es reicht noch nicht ganz für die Olympischen Spiele.“ Die finden derzeit in Japan statt. Doch nicht nur die Sportfans schauen gerade interessiert Richtung Land der aufgehenden Sonne. Auch die Gartenfreunde. Der Grund: die ebenfalls rekordverdächtigen Bonsai.
„So ein kleiner Baum kann älter sein als wir drei zusammen“, sagt Vera Sturm und lacht. Ich bin nach Römerberg gefahren. In dem pfälzischen Dorf bei Speyer betreibt die 33-Jährige zusammen mit ihrem Mann Martin (36) ein Bonsaizentrum. Martin Sturm führt mich zum Methusalem der gemeinsamen Sammlung – einem 150 Jahre alten Ahorn, der aber kaum höher als 70 Zentimeter ist. Damit gehört er zu den eher größeren Exemplaren. Die kleinsten unter den Minigehölzen werden in Japan Mame genannt und dürfen maximal zehn Zentimeter sein, dann folgen die Shohin, die bis zu 20 Zentimeter erreichen dürfen.
„Bonsai heißt eigentlich nichts anderes als Baum in der Schale und es gibt zwei Arten, sie zu züchten“, erklärt Vera Sturm. Nummer eins: Die aus einem Samen gewonnene Jungpflanze wird ins Feld gesetzt und durch Beschneiden immer klein gehalten. Nach etwa sechs bis neun Jahren wird sie ausgegraben und in eine Schale gesetzt. Nummer zwei: Kenner suchen gezielt Grundpflanzen in der Wildnis. Yamadori heißen diese, was übersetzt so viel bedeutet wie „aus dem Berg entnommen“. „Diese Gehölze zeichnen sich dadurch aus, dass sie von Natur aus klein, verknorzelt oder von der Form geschwungen sind“, erläutern die Pfälzer Experten. Kräftiger Wind oder im Gebirge abgehendes Geröll haben den Bäumchen ihre besondere Gestalt gegeben.
Für das Leben in den traditionellen Schalen eignen sich allerdings nur Flachwurzler. Und die müssen intensiv gepflegt werden, um fit zu bleiben. Dazu gehört regelmäßiges Gießen und das Zugeben von ausreichend Nährstoffen. Zudem brauchen die Pflanzen ein durchlässiges Substrat sowie am Boden der Schale ein Loch, damit überschüssiges Wasser abfließt. Der Standort kann je nach Sorte recht unterschiedlich sein.
Vera und Martin Sturm importieren ihre Bonsai – gemäß den strengen Artenschutz-Bedingungen – direkt aus Japan. Sie verkaufen aber auch heimische beziehungsweise europäische Sorten. Oliven-, Aprikosen- oder Apfelbäume – alle im Kleinstformat.
„Die Kunst, dem Baum eine Form zu geben, kann man in Kursen lernen“, sagt Martin Sturm. Allerdings kennt er auch Kritiker der Bonsai-Kultur. Die sehen das absichtliche Kleinhalten durch ständiges Schneiden fast als eine Gewalttat an der Natur.
Doch das Gegenteil ist der Fall, meint das Paar aus Römerberg. „Der Bonsai sollte seinen Züchter überleben und so bleibt man einfach nur einer seiner Pfleger.“ Das lehrt einem Demut vor der Natur und dass im Kleinsten auch ganz viel Großes steckt.
Dieser Satz bleibt mir noch lange im Gedächtnis haften, als ich mich wieder auf den Heimweg mache. Vielleicht lässt sich das ja auch auf kleine Menschen übertragen, überlege ich. Auf meine kleinen Leichtathleten zum Beispiel. Dann hätten die Kinder ja doch noch eine Chance, irgendwann einmal bei Olympia groß rauszukommen. Wenn auch nicht jetzt gleich in Japan.
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