Die Geduld scheint bei vielen Menschen am Ende. Es braucht nicht viel, schon bricht es aus dem Wutbürger heraus. Der eine verzweifelt am Genderstern, der andere am Verkehrsversuch, der nächste an schwarzen Perücken und Sombreros, die nicht mehr getragen werden sollen, weil es sich dabei um kulturelle Aneignung handelt. WAS soll einem denn noch alles verboten werden? Irgendwann reicht es auch mal!
Pochen auf die individuelle Freiheit
An Debatten wie diesen zeigt sich, wie aufgeheizt die Stimmung in der Gesellschaft ist. Wie sonst erklärt sich die Flut an Leserbriefen, die den „Mannheimer Morgen“ zur Posse um das Awo-Tanzballett und ihre kostümierte Reise um die Welt erreicht hat? Es könne ja wohl nicht sein, dass in einem freien Land die Kleiderordnung für Auftritte reglementiert werde, schreibt jemand. Freiheit. Es geht um nichts weniger als die Freiheit, die viele bedroht sehen. Die Freiheit, NICHT von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sprechen, sondern von Mitarbeitern. Sich als „Mexikaner" und „Japanerin“ zu verkleiden. Mit dem Auto bis vors Kaufhaus zu fahren. Schließlich haben wir das immer schon so gemacht.
Früher war vieles anders, aber nicht besser
Weil „WIR“ - wer immer hier „wir“ ist - es immer schon so gemacht haben, heißt aber nicht, dass „wir“ es schon immer gut gemacht haben. Oder was ist gut daran, dass Frauen strukturell benachteiligt werden, der Planet überhitzt, Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Glaubens verfolgt werden? Wenn ein farbiger Schüler zu spät zum Unterricht erscheint und der Lehrer fragt: „Oh, ist das Schlauchboot geplatzt?!“, ist das eben nicht lustig. Es war auch nie lustig. Es hat sich nur keiner GEDANKEN gemacht. Genauso wenig wie es in Ordnung ist, dass der Tübinger Oberbürgermeister das N-Wort benutzt und sich mit einem Judenstern-Vergleich rechtfertigt. Und wer würde es schon normal finden, wenn ein mit drei Michelin-Sternen dekorierter Starkoch seinen Mitarbeitern zwischen die Beine greift und Mitarbeiterinnen Brotstücke in den Ausschnitt steckt, wie es laut eines Berichts des Magazins „Der Spiegel“ Christian Jürgens getan haben soll?
Über (Macht-)missbrauch wird längst geredet
Vor zehn oder zwanzig Jahren wurde das mit einem Schulterzucken „Hab‘ dich nicht so, ist halt der Chef“ abgetan. Dass Macht missbraucht wurde, in Schulen und Kirchen, in Kultureinrichtungen und jedem x-beliebigen Büro sowie abends an der Bar, wurde akzeptiert, oder es wurde weggesehen.
Kritik am Kulturklau in Mode und Musik
Das ist heute nicht mehr so. Debatten über sexuelle Belästigung und Gewalt, über Rassismus und ungleich verteilte Chancen werden längst geführt. Genauso ist kulturelle Aneignung ein Thema und nicht erst seit eine Mannheimer Seniorinnengruppe eine kostümierte Weltreise unternimmt. Etliche Popstars stehen in der Kritik, weil sie sich aus der afroamerikanischen Popkultur bedienen und dies als ihren eigenen Stil ausgeben. In der Modebranche werden Label, die traditionelle Techniken aus Afrika und Lateinamerika kopieren, ohne dies kenntlich zu machen, an den Pranger gestellt. In der Literatur hat für Kontroversen gesorgt, wer (eine Weiße?) das Gedicht „The Hill We Climb“ der (Schwarzen) Amanda Gorman in andere Sprachen übersetzen darf. Die damals 22-Jährige hatte es zur Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden vorgetragen und für Furore gesorgt. Der deutsche Verlag Hoffmann und Campe entschied sich für ein Übersetzungsteam mit unterschiedlichen Expertisen und Erfahrungen.
Die Welt ist im Umbruch. Überall mitzugehen, fällt nicht leicht. Denn das heißt auch, alte Glaubenssätze über Bord zu werfen und Gewohnheiten zu hinterfragen. Die Politikwissenschaftlerin Tmnit Zere stellt in einem Aufsatz für die (den Grünen nahestehende) Heinrich-Böll-Stiftung über die „Gesellschaft im Wandel“ fest, dass die Veränderungen in der Moderne von einer besonderen Dynamik gekennzeichnet seien: „Auf Seite der Veränderungswilligen herrscht die Ansicht vor, dass notwendige Reformen nicht oder zu langsam stattfinden oder gar ¬blockiert werden. Dem entgegen stehen die Bewahrenden, die fürchten, dass sich die Gesellschaft zu schnell oder in die falsche Richtung verändert. Daraus erwachsen Konflikte.“
Unfähigkeit Konflikte zu führen
Die Konflikte selbst sind jedoch weniger das Problem, sie gehören zum Wesen einer Demokratie. Doch Konflikte muss man führen können, damit sie konstruktiv werden, es müssen Spielregeln eingehalten werden und eine der wichtigsten heißt: ZUHÖREN. „Lächerliche Begründung: kulturelle Aneignung“, erklärt jemand in einem Leserbrief zum Awo-Ballett. Ein offener Dialog ist damit nicht (mehr) möglich, er ist auch nicht gewollt, denn die Meinung steht längst fest und Andersdenkende werden auch gleich abgeurteilt: „lächerlich“.
Der deutsch-israelische Psychologe und Autor Ahmad Mansour, der sich mit Projekten und Initiativen gegen Radikalisierung und Antisemitismus beschäftigt, hat unlängst auf einer Podiumsveranstaltung festgestellt: „Unsere Gesellschaft ist aufgeregt und braucht einen massiven Basiskurs in Diskurs-Kultur.“ Das Problem sei mangelnde Toleranz. „Die Grenzen, wie wir diskutieren, sind enger und enger geworden in den letzten Jahren.“
Von woke bis Tugendwächter
Die medialen Filterblasen, in denen sich die Menschen täglich bewegen, sind einer der Gründe für diese immer enger werdenden Grenzen. Denn der auf den jeweiligen (politischen) Geschmack abgestellte Algorithmus schlägt der Nutzerin, dem Nutzer in den Sozialen Medien (meist) das vor, was ihr oder ihm gefällt und suggeriert auf diese Weise, dass es nur eine Meinung gibt: die eigene. Die andere Seite der Realität wird ausgeblendet.
Umdeutung von Begriffen
Was den Diskurs zusätzlich erschwert, sind irreführende Kampfbegriffe. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat eine Liste erstellt: Aus Menschen, die darauf hinweisen, dass Sprache ausgrenzen kann, wird die „Sprachpolizei“, aus der Forderung, diskriminierenden Haltungen in Debatten keinen Raum zu geben, ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, wer Machtstrukturen hinterfragt, ist „Tugendwächter“, und „woke“ will sowieso niemand (mehr) sein, denn „woke“ sind nur die aggressiven Aktivisten.
Gutmensch als Unwort des Jahres
Auch der „Gutmensch“ gehört in diese Kategorie der Reizwörter. Prompt fiel das Wort in der Debatte um das Awo-Tanzballett; „Gutmenschen“ wollten, so hieß es, die ehrenamtliche Arbeit von Seniorinnen abwerten. Tatsächlich wurden damit diejenigen abgewertet, die auf die Problematik klischeehafter Kostüme hingewiesen hatten. Sprachwissenschaftler haben den „Gutmenschen“ vor ein paar Jahren zum Unwort des Jahres erklärt, weil damit, so lautete die Begründung, Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd diffamiert würden.
Die Leiterin des Awo-Tanzballetts, Erika Schmaltz, hat in einem ihrer vielen Interviews gesagt, sie wisse nicht, was sie Schlimmes getan habe. Nichts! Schlimm ist die Wut, mit der die Debatte geführt wird, das Abqualifizieren der Kritiker: Alles Pseudo-Moralisten, die uns vorschreiben wollen, wie „WIR“ zu denken haben. Wo BITTE geht’s zum nächsten Kurs in Diskurs-Kultur? Und WER ist eigentlich „WIR“?
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/leben_artikel,-ansichtssache-frueher-war-mehr-sombrero-_arid,2084838.html
Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Ikke Hüftgold und das Kostümverbot auf der Buga: Klischee olé