Das Wichtigste in Kürze
Wie konnten die schrecklichen Verbrechen des Nationalsozialismus geschehen? Es war ein schleichender Prozess, der Menschen herabwürdigte und entfremdete, bis sie nicht mehr als Menschen gesehen wurden. Mit der szenischen Lesung „Annes Kampf“ prallte am Mittwochabend in Hockenheim diese Entmenschlichung durch Adolf Hitler auf die Träume und Hoffnungen eines seiner bekanntesten Opfer: Anne Frank.
Hockenheim. Am Rand der Bühne stehen zwei Bücher: „Das Tagebuch der Anne Frank“ und Hitlers „Mein Kampf“. Die Kabarettistin und Sängerin Marianne Blum sitzt an einem Tisch und leiht dem jüdischen Mädchen, das sich mit seiner Familie vor den Nazis versteckt, ihre Stimme. Der Schauspieler Thomas Linke dagegen steht am Rednerpult und liest die unfassbar menschenverachtenden Ergüsse des Diktators.
Mit Ausnahme weniger Sätze am Anfang und Ende besteht das Stück ausschließlich aus Originalzitaten, die sich abwechseln und gegenseitig kommentieren. Während sich Anne etwa Sorgen um ihre Freunde und Bekannten macht, lässt sich Hitler darüber aus, dass Juden ausschließlich durch einen egoistischen Selbsterhaltungstrieb geprägt sind.
Marianne Blum begeistert in Hockenheim als Anne Frank
Besonders emotional wird es am Ende. Im Juni 1944 schrieb Anne voller Hoffnung, dass sie vielleicht bald wieder zur Schule gehen kann. Doch die Untergetauchten wurden verraten, knapp zwei Monate später, am 4. August, abgeholt und in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Annes Vater Otto Frank hat als einziger überlebt. Marianne Blum verkörpert Anne wunderbar zart und nachdenklich. Sie war ein kluges und sensibles Mädchen, deshalb fiel es der Künstlerin nicht schwer, sich in sie hineinzuversetzen.
Laut und aggressiv ist dagegen Thomas Linke als Adolf Hitler. Die Rolle des Führers ist Schwerstarbeit für den Schauspieler, er muss ihn glaubwürdig verkörpern und dabei nicht in eine Parodie abgleiten. „Dafür muss dieser ganze Hass am Abend einmal durch mich durch“, erzählt er nach der Vorstellung beim Publikumsgespräch. „,Mein Kampf‘ ist voller Lügen und Hass, selbstgerecht und dazu noch schlecht geschrieben“, so Marianne Blum.
Es sei aber wichtig, sich dem auszusetzen, denn immer noch steht die Frage im Raum: Warum sind ihm die Menschen gefolgt? Tatsächlich sei davon auszugehen, dass die meisten nicht wirklich zugehört haben. Nur wenige dürften „Mein Kampf“ gelesen haben. Viel wichtiger als Inhalte waren die Inszenierungen und das Herunterbrechen auf wenige Schlagwörter und Feindbilder. Das ist auch heute wieder zu beobachten. „Wer einfache Lösungen für komplexe gesellschaftliche Herausforderungen bietet, lügt“, so Thomas Linke. „Wir müssen richtig zuhören“, betont Marianne Blum. „Wie Anne am Anfang gesagt hat: Man hätte es wissen können“.
Jiddische Lieder und deutsche Schlager im Hockenheimer Pumpwerk
Die Musik spielt eine wichtige Rolle in Annes Kampf. „Wir wollten Ihnen damit auch eine kleine Verschnaufpause geben“, sagt Marianne Blum. Jiddische Lieder aus dem Arbeitslager und Ghetto, deutsche Schlager, Gassenhauer und Durchhaltelieder erzählen eigene Geschichten und spiegeln die große Bandbreite der Sängerin wider. Natürlich darf auch Richard Wagner nicht fehlen. Er war als glühender Antisemit Hitlers erklärter Lieblingskomponist. Seine Musik war im Dritten Reich allgegenwärtig. Sie erklang bei Reichsparteitagen und vielen anderen Veranstaltungen. Auch Auschwitz und andere Konzentrationslager wurden damit beschallt.
2016 hat Marianne Blum das Stück gemeinsam mit dem Schriftsteller Guido Rohm konzipiert. Zwei Ereignisse waren dabei ausschlaggebend. „Mein Kampf“ wurde rechtefrei und als kommentierte Ausgabe neu veröffentlicht. „Sie wurde zum Bestseller und wir fragten uns, wer das kauft.“ Im gleichen Zeitraum erzielte mit der AfD eine Partei erste Erfolge, die mittlerweile gesichert rechtsextremistisch ist.
Ursprünglich war eine einzige Vorstellung als Statement geplant, doch schnell war klar, dass das Stück zu wichtig ist. Nach der ersten Aufführung kam eine Lehrerin auf die Künstler zu und meinte, dass „Annes Kampf“ an allen Schulen gespielt werden muss. Einige Wochen später gab es dann die erste Vorstellung vor 400 Schülern.
Hockenheim kann Schule nicht für Vorstellung mobilisieren
Auch in Hockenheim war eine Doppelvorstellung geplant, dafür waren Marianne Blum und Thomas Linke bereits am Vortag angereist. Dass es dem Veranstalter, der Stadt Hockenheim, nicht gelungen ist, Schulen dafür zu mobilisieren, hat sie enttäuscht. Umso mehr freuten sich die beiden, dass am Abend viele junge Menschen gekommen sind.
„Wir dürfen nie vergessen“, mahnt Thomas Linke. Da Zeitzeugen wie Margot Friedländer und Esther Bejarano ihre Geschichte nicht mehr erzählen können, sind neue Formen der Erinnerungsarbeit wichtig. Marianne Blum erzählt, dass sie immer wieder Neues dazulernt „Der ganze Märtyermythos ist auf jeden Fall erstunken und erlogen“.
Ursprünglich war die Aufführung in der Stadthalle geplant, wurde dann aber ins Pumpwerk verlegt. Für das anwesende Publikum und die Atmosphäre war das eine gute Entscheidung, auch wenn mehr Zuschauer wünschenswert gewesen wären. Beim Publikumsgespräch überwog dann aber die gemeinsame Hoffnung. „Wichtig ist, dass wir uns alle einmischen.“
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