Hockenheim. „Es war ein kalter Winterabend. Missmutig trottete der Wolf mit seinem Schlitten durch den Schnee. (…) Hunger, Hunger, Hunger, murmelte er im Takt seiner Schritte, um den Mut nicht zu verlieren.“ So beginnt das Kinderbuch „Ein Schaf fürs Leben“, das Anke Faust illustriert und dafür mit der niederländischen Autorin Maritgen Matter sowie der Übersetzerin Sylke Hachmeister 2004 den Jugendliteraturpreis erhalten hat. Am Donnerstagabend stellte sie das Buch in der Aula des Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasiums vor. Es war die letzte Station einer Lesereise, die Faust zum 20. Jubiläum des Werks veranstaltet und im Oktober 2023 begonnen hatte.
Schulleiterin Anja Kaiser konnte zwar keinen vollen Vortragssaal begrüßen, „doch ist es im kleinen Rahmen genauso schön und wertvoll und vielleicht auch ansprechender“, sagte sie. Insbesondere freue sie, dass die Künstlerin einst selbst Schülerin am Gauß-Gymnasium war und hier ihr Abitur machte. Die wenigen Kinder und Erwachsenen, die gekommen waren, erlebten einen ungewöhnlichen Abend. Denn Faust führte lebhaft, anschaulich und einfühlsam in das Buch und in ihre Arbeit als Illustratorin ein.
Rätselhafter Koffer und handgefertigte Figuren faszinieren
Dazu hatte sie eine große Leinwand mitgebracht, einen Beamer und einen rätselhaften roten Koffer, dessen Inhalt sie von den kleinen und großen Zuhörern erraten ließ. Ein Mädchen durfte ihn schließlich öffnen – und heraus sprangen ein Wolf und ein Schaf, die Fuchs in liebevoller Handarbeit aus Stoff bezaubernd genäht hatte und die genauso aussahen wie die entsprechenden Illustrationen im Buch.
Ehe sie aus dem Buch zu lesen begann, erklärte Faust, was sie mit dem Gauß-Gymnasium verbindet und dass ein Teil des Erlöses ihrer Reise durch ganz Deutschland dem Kinderhospiz Sterntaler zugutekomme. Zudem zeigte sie Fotos aus ihrem Schulleben am „Gauß“ – darunter ihren Kunstlehrer und das Bild, das sie fürs Abitur gemalt hatte – und aus dem Alltag des Kinderhospizes.
Erst dann erfuhren die Zuhörer, worum es in „Ein Schaf fürs Leben“ geht. Jedes Kind weiß, dass der Wolf in Märchen stets hungrig und auf der Suche nach Essbarem ist. Als er, wie hier, an einem eiskalten Wintertag an eine Stalltür klopft und ihm ein Schaf öffnet, ist also jedem klar, wer da wen fressen wird. Oder?
Unerwartete Wendung: Wolf und Schaf werden Freunde
Es kommt nämlich ganz anders: Das Schaf freut sich über den Gast und bietet ihm gutmütig Heu an. Der Wolf jedoch lockt es aus dem Stall unter dem Vorwand, es auf eine Schlittenfahrt mitzunehmen, zu einem Ausflug nach „Erfahrungen“. In Wirklichkeit aber will er es irgendwo ungesehen auffressen. Als die beiden in die Winternacht hinausziehen, geschieht etwas Unerwartetes. Plötzlich ist der eigentlich Starke, der Wolf, auf die Hilfe des vermeintlich Schwachen, des Schafs, angewiesen. Daraus ergibt sich nicht nur eine tragikomische Spannung, wunderbar witzig im Dialog wiedergegeben, sondern auch ein Umdenken beim Leser beziehungsweise Zuhörer. Wird hier doch aufgeräumt mit den gängigen Vorstellungen über die Beziehung zwischen Wolf und Schaf. Die zwei grundverschiedenen Wesen, deren Schicksal es ist, einander Feind zu sein, werden überraschend zu Freunden. Beide entdecken neue Seiten an sich und neue Sichtweisen.
Faust trug die Passagen aus dem Buch so gekonnt vor, dass sie die kleinen Zuhörer animierte, es selbst zu lesen. Zu dessen Erfolg trug nicht nur Matters Text bei, sondern auch Fausts Illustrationen. Nach der Lesung gab sie Einblicke in ihre Arbeit als Illustratorin, wobei sie eine besondere Technik verwende – die Collage-Technik –, die sie selbst entwickelt habe. So gelang es ihr, die Geschichte in eine poetische, innovative Bildsprache umzusetzen, voller Energie und Emotionen. Das war Grund genug für einige Besucher, das Buch zu kaufen und es von ihr signieren zu lassen.
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