Gesundheitswesen

Reilinger Arzt warnt vor dem Zusammenbruch der Notfallversorgung

Der Reilinger Mediziner Dr. Michael Eckstein gibt Einblicke in die Lage der ärztlichen Bereitschaftsdienste nach dem verhängnisvollem BSG-Urteil. Einige Notfallpraxen im Land wurden schon geschlossen.

Von 
Henrik Feth
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Die Notfallversorgung in Baden-Württemberg droht nach einem BSG-Urteil nach und nach zusammen zu brechen. Die lokale Ärzteschaft ist in Aufruhr, wie der Reilinger Arzt Dr. Michael Eckstein beschreibt. © dpa

Reilingen. Erst vor wenigen Monaten berichtete Dr. Michael Eckstein dem Gemeinderat von der immer prekärer werdenden Situation der Hausärzte in der Region und in ganz Baden-Württemberg. Nun bringt ein Ende Oktober ergangenes Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) die Versorgungsstruktur im Land nochmals stark in die Bredouille. Im Mittelpunkt steht dabei der ärztliche Bereitschaftsdienst – auch Notdienst genannt – bei dem nun weitreichenden Änderungen anstehen. Dr. Michael Eckstein (kleines Bild) – Reilinger Hausarzt und unter anderem Delegierter der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg – gibt nun Einblicke in die Folgen, die das Urteil auf die hiesige Ärzteschaft und die Versorgung hat.

Die bisherige Vorgehensweise für den ärztlichen Bereitschaftsdienst war bis zum Urteil folgende: Sogenannte „Poolärzte“ übernahmen Dienste in der Bereitschaft und deckten damit fast die Hälfte der nötigen Arbeit in den Notfallpraxen Baden-Württembergs ab. Diese Mediziner leisteten die Dienste freiwillig und ohne Sozialversicherungspflicht – gerade für jüngere Ärzte eine finanzielle Absicherung. Sie waren bei der jeweiligen Notfallpraxis nicht abhängig beschäftigt und arbeiteten auf Basis der Selbstständigkeit.

Zahnarzt klagt gegen die bisherige Verfahrensweise im ärztlichen Bereitschaftsdienst

Gegen diese Vorgehensweise klagte ein Zahnarzt, der zwar den Status „Poolarzt“ hat, jedoch vertraglich an die Kassenzahnärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KZVBW) gebunden ist und somit unter die Sozialversicherungspflicht fällt. Am 24. Oktober entschied das BSG zugunsten des Zahnarztes und fällte das Urteil, dass „Poolärzte“ generell einer Sozialversicherungspflicht unterliegen. Damit müssen alle „Poolärzte“ gekündigt werden und es droht eine immer größer werdende Lücke in der Notfallversorgung.

Die Probleme, die sich durch das Urteil ergeben, beschreibt Dr. Michael Eckstein anhand der Situation in der Region rund um Hockenheim und Schwetzingen: „In unserem Notdienstbezirk werden zirka 85 Prozent der Dienste von ’Poolärzten’ durchgeführt und 15 Prozent von Vertragsärzten mit Praxis. Das ändert sich jetzt schlagartig. Alle ’Poolärzte’ sind gekündigt und die Vertragsärzte jeden Alters und aus jedem Fachgebiet müssen wieder Dienste machen.“

Der Reilinger Mediziner Dr. Michael Eckstein schläft nach dem BSG-Urteil bezüglich der Notfalldienste Alarm. © Norbert Lenhardt

Der Mediziner schildert die negativen Aspekte, die das Ganze mit sich bringt: „Vertragsärzte über 60 Jahre müssen unter Umständen wieder mehrfach in der Nacht tätig werden. Das ist für diese Altersgruppe eine unzumutbare Belastung.“ Tagsüber sei die normale Patientenversorgung in der Praxis zu leisten und danach solle noch ein Nachtdienst folgen, Eckstein stellt hier die Machbarkeit in Frage: „Und dann soll man womöglich am nächsten Tag in der Praxis wieder Patienten versorgen. Wenn man am nächsten Tag dann die Praxis schließt, wer kümmert sich bei der sowieso schon schlechten Versorgungslage die Patienten?“

Ein großes Problem sieht der Reilinger Hausarzt auch darin, dass nun Vertragsärzte aller Fachbereiche herangezogen werden und ist hierbei klarer Meinung: „Viele Fachärzte sind fachlich definitiv nicht in der Lage, diese Dienste zu machen. Es besteht zwar eine Fortbildungspflicht, aber wenn man nicht im ’Tagesgeschäft’ ist, nutzt die Theorie nichts. Diese Kolleginnen und Kollegen haben eventuell seit 20 Jahren keinen Dienst mehr gemacht und sind mit diesen Notfällen definitiv nicht vertraut.“

Die Ärzteschaft in Baden-Württemberg ist aufgrund des Urteils empört

Die Stimmung unter der Ärzteschaft in der Region sinkt derweilen aufgrund des Urteils ebenfalls drastisch: „Es ist bei allen das absolut beherrschende Thema. Es herrscht Empörung, Wut, Angst, Resignation – die gesamte Palette der negativen Gefühle.“ Dabei spielt auch das von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vorangetriebene Digitalisierungsvorhaben eine nicht minder gewichtige Rolle. Seit zweieinhalb Jahren herrsche in den Praxen Ausnahmezustand – von Erkältungswellen bis zu Covid-Infektionen – und zusätzlich „müssen wir mit einer dysfunktionalen IT arbeiten“, so Eckstein. Schon in diesem Fall habe die Politik die Ärzteschaft mit Missachtung bestraft. Das BSG-Urteil komme jetzt noch hinzu.

Eckstein gibt eine Prognose zu den Folgen ab: „Ältere Kollegen denken konkret darüber nach, den Bettel hinzuschmeißen und nicht in zwei Jahren aufzuhören, sondern sofort. Die jungen Kollegen, die gerade erst durchstarten wollen, haben Angst vor der Zukunft. Sie wissen nicht, wie sie die Versorgung der Patienten in den nächsten Jahren sicherstellen können. Jüngere Kollegen, die sich eventuell niederlassen wollen, werden sich mit Grausen abwenden und sich lieber bei geregelten Arbeitszeiten ohne Dienstverpflichtung anstellen lassen.“

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Im Gespräch mit anderen Medizinern, die spezialisierte Fachärzte sind, nahm Eckstein sogar eine „richtige Angst“ vor den Diensten wahr. Auch den „Poolärzten“ – unter anderem erfahrene Mediziner, die bereits in Rente sind – werde von jetzt auf gleich eine wichtige Einkommensquelle genommen. Dass diese wieder ins System zurückkehren, ist für Eckstein ausgeschlossen und er hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg: „Man hat den Eindruck, als würde derzeit alles gemacht, um die ambulante Gesundheitsversorgung zu zerstören!“

Als kurzfristige Lösung wurde von der KVBW das Konzept der Notbremse eingeführt. Dieses sieht Schließungen von Notfallpraxen vor, was jedoch den Bedarf nicht mindern wird, sondern diesen nur auf die Notfallambulanzen der Kliniken verlagern wird. „Diese sogenannte Notbremse verteilt nur den Mangel und ist ein vorübergehendes Konstrukt, um den völligen Zusammenbruch der Notdienste zu verhindern. Es ist der kurzfristige Versuch, ein zerbrechendes System noch am Leben zu erhalten. Daher hat auch der Vorstand der KVBW von der Vertreterversammlung den Auftrag bekommen, bis zum 6. Dezember eine praktikable und längerfristige Lösung vorzuschlagen“, so Eckstein.

Dank der lokalen Politik ist die Hoffnung noch nicht ganz begraben

Doch ganz ist die Hoffnung der Ärzteschaft noch nicht begraben. So haben Landräte bereits Briefe nach Berlin geschrieben und zumindest die lokale Politik wache laut Eckstein allmählich auf: „Der Gesetzgeber könnte mit nur einem Satz die Problematik der ’Poolärzte’ beenden. Es wird sich wahrscheinlich eine Lösung finden.“ Auch an Vermittlungsbörsen werde bereits gearbeitet. Jedoch seien hier Einzelarbeitsverträge notwendig, was einen riesigen bürokratischen Mehraufwand bedeutet.

Droht tatsächlich ein völliger Zusammenbruch der Bereitschaftsdienste in Baden-Württemberg? Eckstein meint nein – zumindest jetzt noch nicht. „Aber wir können nicht vorhersagen, wie sich die Situation weiterentwickelt. Acht Notdienstpraxen wurden jetzt akut geschlossen, bei vielen anderen wurden Öffnungszeiten eingeschränkt. Die Patienten werden vor verschlossenen Türen stehen. Die Folge: Die jetzt schon überlasteten Notaufnahmen in den Kliniken werden noch mehr überlaufen.“ Das System habe inzwischen Löcher im ambulanten und stationären Bereich, die kaum mehr zu schließen seien.

Man habe schon seit Jahren vor solch einer Situation gewarnt, doch bei der Politik kein Gehör gefunden. Auch der aktuelle Gesundheitsminister Lauterbach habe seinen Anteil daran. „Die Politik ist weiterhin taub, Herr Lauterbach denkt mit seiner Krankenhausreform nur an den stationären Bereich. Er lässt sich von Experten beraten, die sehr weit weg von der Praxis sind. Mit Sicherheit ist seine Politik auch von ideologischen Gedanken geprägt. Wir steuern mit immer größer werdender Geschwindigkeit auf ein System der Staatsmedizin zu.“

Mit dem Abgang der Boomer-Generation wird sich die Problematik nochmals verschärfen

Die Ärzteschaft kann indes juristisch nicht gegen das BSG-Urteil vorgehen, daher macht Eckstein nochmals klar, was dieses für die Notfallversorgung im Land bedeutet und stellt dunkle Zeiten in Aussicht: „Es ist nur das Vorspiel, wenn sich in den nächsten Jahren die Boomer-Generation aus der Versorgung verabschiedet und diese dann nicht nur im Notdienst Not leidet, sondern die gesamte Patientenversorgung nicht mehr auf dem bisher gewohnten Niveau erfolgen kann, wird es zu spät sein.“

Eckstein betont abschließend, dass die Ärzteschaft durchaus bereit ist, sich dem entgegenzustellen: „Die Ärzteproteste werden zunehmen, wir sind nicht bereit, kampflos klein beizugeben. Uns liegt die Versorgung unserer Patienten am Herzen, uns liegt die Zukunft unserer selbstständig geführten Praxen am Herzen, da diese bisher eine Gesundheitsversorgung auf höchstem Niveau garantiert haben.“ Ob die dringend benötigte Notfallversorgung in Baden-Württemberg nach dem BSG-Urteil ebenfalls auf diesem Level bleiben kann, werden die kommenden Monate zeigen.

Redaktion Verantwortlicher Redakteur für die Gemeinde Ketsch

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