Die Grenzen zwischen Vorgelesenem sowie Schilderungen und Gedanken verschwommen immer wieder. Wer Kristina Vogel auf der Bühne des Danzi-Saals im Schwetzinger Kulturzentrum nicht ununterbrochen beobachtete, hatte sicherlich Probleme zu unterscheiden, ob die ehemalige Leistungssportlerin nun aus ihrem Buch „Immer noch ich. Nur anders.“ vorlas oder aber erzählte. Doch die meisten Augen im voll besetzten Saal klebten ohnehin regelrecht an den Lippen der dreifachen Olympiasiegerin und 17-maligen Bahnrad-Weltmeisterin.
„Naja, da war noch etwas mehr“, witzelte die 32-Jährige, die seit einem Trainingsunfall 2018 querschnittsgelähmt ist. „19 deutsche Meistertitel, 22 Weltcups, fünfmal EM und danach wird es schwer . . .“, zeigte sich Vogel gut gelaunt und präsentierte direkt ihren Rollstuhl: „Blaulichtrollstuhl, der blinkt nämlich.“ Bei ihrer ersten Lesung überhaupt hatte Vogel das Publikum nach nur einer Minute bereits für sich gewonnen. Start geglückt.
Ihre Zeilen waren schwerere Kost. „Ich möchte erzählen“, betonte Kristina Vogel. Das Buch sei ihr „Baby“ und auch eine Möglichkeit aufzuarbeiten. Dabei – hier bezog sie sich auf ihr Interview in dieser Zeitung – sei nach dem Unfall nie die Idee aufgekommen, aufzugeben. Sie habe viele Aufgaben: Stadträtin in Erfurt, Trainerin bei der Polizei und ZDF-Kommentatorin. Oft arbeite sie 80 Stunden in der Woche. Und: „Ein Unfall ist auch nur ein Job, der gemacht werden muss!“ Ein Satz, den sie mehrfach wiederholte.
Vogel schilderte, wie sie mit Mirian Welte Olympiasieger geworden war, dem Druck nach dem WM-Titel, als Favoriten ins Rennen zu gehen, Taktik und Aufbau ihres Rades. Einblicke, die zeigten, wie ehrgeizig und professionell Vogel ihren Sport betrieben hatte. „Den schönsten Sport, den ich mir vorstellen kann.“ Eine Achterbahnfahrt, in der man selbst für den Schwung sorgt. Und gleichzeitig hat er den Charakter von Schach.
Absolute Stille im Saal
Doch Vogel unterstrich auch, ihren Sport irgendwann einmal „verloren“ zu haben. Es habe die Euphorie gefehlt. „Ich habe nicht mehr dafür gebrannt. Ich fühlte mich gedrängt. Manchmal hatte ich vergessen, was mir am Bahnsport gefallen hat.“ Sie habe den Unfall wohl gebraucht, um es wieder zu begreifen. Ob sie irgendwann einmal wieder Leistungssport betreibe? Vielleicht. Irgendwann einmal.
Für ihren ersten Auszug aus „Immer noch ich. Nur anders.“ wählte Vogel ausgerechnet den Unfallvorgang sowie die ersten Stunden danach. Sachlich geschrieben, ruhig vorgelesen, sorgten die Zeilen für absolute Stille im Saal. Nur Vogels Stimme war zu hören. Eine Stimme, die angesichts der Schilderungen ab und an ein wenig trocken zu werden schien, nie aber versagte. Vogel las, wie sie im Training Tempo aufnahm. „Und an dieser Stelle ist abermals Schluss. Da stand jemand auf der Bahn.“ Die Zeilen zeichneten das Bild der ehrgeizigen, jungen Frau, die zunächst ohne Schmerzen, aber auch ohne Gefühl auf der Bahn lag, Dinge, die wegen des Unfalls erledigt werden mussten, organisieren wollte und schließlich im Hubschrauber nach Berlin geflogen wurde, eindrücklich, sehr deutlich und vor allem in schockierender Deutlichkeit. Dazu waren nicht viele Worte nötig. „Ich musste atmen, bekam keine Luft. Ich kann nicht mehr laufen.“
In ihrem Auszug sprang Vogel vom Aufbruch ihres Freundes Michael und seiner Mutter Richtung Krankenhaus urplötzlich zum Moment, in dem sie zwei Tage nach dem Unfall wieder aufwachte – insgesamt überstand sie drei große Operationen und viermaliges Koma. Die Lunge habe es ihr schwer gemacht. „Die Maschinen waren abartig.“ Vogel beschrieb ihre medizinische Versorgung dabei ebenso genau wie ihre Ängste, die „Spirale hinab“ nicht zu überleben: „Immer weniger Luft in der Lunge. Die Krankenhauszeit war wirklich hart. Die schlimmste Zeit und die schlimmsten Kämpfe, die ich jemals hatte.“ Eine Goldmedaille bei Olympia zu gewinnen, sei nichts dagegen, scherzte sie und ließ damit das Publikum erstmals wieder durchatmen. Vogel hatte in ihrer ersten Lesung Tempo aufgenommen.
Koma sei von ihr mit einer Niederlage gleichgesetzt worden. Gesund zu werden, sei ihr Sieg gewesen. Als Leistungssportlerin habe sie Schmerzen ignorieren, nun aber auf ihren Körper hören müssen. „Ich bin stolz, dass ich nach nur sechs Monaten aus dem Krankenhaus heraus konnte.“ Und wieder: „Ein Unfall ist eben manchmal ein Job, der gemacht werden muss.“
Eine neue Etappe
In einem weiteren Auszug ging Vogel auf ihre Gedanken ein, was sie den Menschen um sich herum und auch anderen mit ihrem Unfall angetan hatte. Das Interesse an ihr habe sie nicht verstehen und erst recht nicht komplett erfassen können. Vorausgegangen waren der erste Auftritt in einer Pressekonferenz und ein Einzelinterview. Sogar Manuel Neuer habe sich danach gemeldet.
Der Rollstuhl sei keine Niederlage, sondern nur das Leben nach dem Unfall, eine neue Etappe. Die Reha-Übungen hätten daher ihren Ehrgeiz geweckt. „Den Po heben, ohne den Po heben zu können“, so Vogel über den Wunsch, sich selbständig vom Boden in den Rollstuhl bugsieren zu können – „um wieder selbständig zu leben.“
Der Fortschritt habe sich erst nach einer Weile und nur Stückchen für Stückchen eingestellt. Sie habe kurz über eine Amputation der Beine nachgedacht. Aber das wäre ihren Beinen gegenüber nicht fair gewesen, die ihr zuvor zwei Jahrzehnte tolle Dienste geleistet hätten. „Die Beine gehören zu mir“, erklärte Vogel, „die gehen schon, auch wenn sie nicht gehen.“
Der Unfall, schloss Kristina Vogel, sei das Ende des Leistungssports für sie gewesen – nicht aber das Ende ihres Lebens. Man könne trotz Querschnittslähmung viel aus einem Leben machen und Glücklichsein sei eine Entscheidung.
Die Zuhörerfrage, was sie zur Inklusion beitragen könne, beantwortete Vogel ausführlich und ließ dabei ihrem Ärger über Menschen freien Lauf, die Behindertenparkplätze blockierten, „um nur mal zu halten“, verschmutzte Toiletten und fehlende Barrierefreiheit. Nur wenn ein Architekt Barrierefreiheit im Blick habe, könne später ein Kind auch seine Wunschschule besuchen, erklärte sie. Bedürfnisse müssten aufgezeigt werden. „Inklusion ist, wenn man Leute zur Party einlädt, Integration, wenn man mit ihnen tanzt.“
Nach dem abschließenden Applaus hatte Vogel einen Wunsch: „Bitte noch mal! Für Facebook und Instagram“, bat sie mit einem Augenzwinkern und zeichnete einen kurzen Clip mit dem Smartphone auf, bevor sie den Autogrammwünschen nachkam. Auch die Zieleinfahrt war ihr gelungen.
„Ganz wunderbar“, zeigte sich die Schwetzinger Zuhörerin Ulrike Kersten-Junghans nach der Lesung begeistert und Cornelia Dietz-Schubert aus Oftersheim ergänzte: „Ich war gespannt und es ist toll zu sehen, dass Schicksalsschläge nicht nur gut verkraftet werden können, sondern man ihnen auch etwas abgewinnen kann: Kraft. Kristina Vogel hat das sehr schön herübergebracht.“
Ihre Lesungspremiere habe Spaß gemacht, freute sich auch Vogel im Gespräch mit dieser Zeitung. „Ich war aber nervös. Laut lesen ist eine Herausforderung. Wie kommen die Auszüge an? Aber ja, es hat mir viel gegeben. Das war ein Erlebnis, das mich sehr beseelt.“
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