Schwetzingen. Nur eine Stunde Pause trennt am Samstagabend zwei sehr unterschiedliche Welten – zwei Aufführungen, zwei Themen, zwei Stimmungen. Es ist eine Stunde zum Durchatmen, zum Innehalten, zum Nachdenken. Und diese Pause braucht es, denn Katja Riemann – Schauspielerin, Sängerin und Autorin – hat sich für ihren Auftritt bei den Schwetzinger SWR Festspielen am vergangenen Samstag viel vorgenommen. Unter dem Titel „Miteinander und Füreinander“ zeigt sie gemeinsam mit der Geigerin Franziska Hölscher und der Pianistin Marianna Shirinyan im Mozartsaal des Schwetzinger Schlosses zwei literarisch-musikalische Programme, die auf den ersten Blick kaum gegensätzlicher sein könnten. Der eine Teil wirkt verspielt, poetisch, und voller Witz, der andere dann ernst, politisch, erschütternd. Und doch gehören sie zusammen – denn beide erzählen von der Kraft und der Kunst des Menschseins.
Den Auftakt macht um 19 Uhr die Vorstellung „Karneval des Glücks“. Camille Saint-Saëns‘ berühmte Komposition „Karneval der Tiere“ bekommt hier eine neue Dimension: Der verstorbene Publizist Roger Willemsen hat die Musik mit eigenen, gereimten Texten versehen – voller Fantasie, voller Humor. Aus dem Löwen wird ein Herrscher mit Allüren, aus der Schnecke eine Diva mit Lipgloss, aus einem Ochsen ein Opernsänger. Zwischen den Texten erklingt Saint-Saëns‘ Musik in einer Bearbeitung von Jarkko Riihimäki. Das Publikum im Mozartsaal schmunzelt, lacht, horcht, staunt über einen musikalischen Zirkus, in dem die Tiere sehr menschlich sind.
Katja Riemann liest Willemsens Texte mit feinem Gespür für Komik und Zwischentöne, mit einer Stimme, die den Raum durchdringt. Sie führt das Publikum durch einen verwunschenen Tierpark – und macht klar: Es geht hier nicht nur um Tiere. Es geht um uns. Um unsere Vielfalt, unsere Eigenarten, unser Glück im Miteinander. Doch was geschieht, wenn dieses Miteinander zerbricht?
Daran knüpft der zweite Teil des Abends an: Denn da liest Riemann „Das müde Glück“ vor, Roger Willemsens eigene Hiob-Geschichte. Im Mittelpunkt steht ein Zirkusdirektor namens Hopp, dem nach und nach alles genommen wird. Seine Tiere sterben, er selbst wird krank. Doch hier steht nicht das unerschütterliche Festhalten am Gottesglauben im Mittelpunkt – sondern die stille Würde, das Leid anzunehmen. Willemsen fasst diese Haltung in einem Satz zusammen, den Herr Hopp am Ende hört: „Du hast das gut gemacht! Die Heiteren hast du erfreut, die Traurigen haben sich erkannt in deiner Klage.“
Riemann, Hölscher und Shirinyan sind an diesem Abend ein Trio im eigentlichen Sinne: Jede erzählt auf ihre je eigene Weise – aber sie hören einander zu, greifen ineinander und lassen sich dennoch Raum. Riemanns Stimme ist ihr Instrument, nuanciert und präzise. Sie fügt sich in die feinsinnige Musikalität ihrer Partnerinnen ein. So entsteht ein echtes Miteinander, wie es der Titel verspricht. Das Publikum bedankt sich mit langem Applaus und verabschiedet sich in die Pause.
Einige Gäste bleiben für die zweite Vorstellung. Einige Plätze bleiben jedoch leer. Schade – denn was folgt, ist ein künstlerischer Höhepunkt. Der zweite Teil beginnt. „ver-FÜHRUNG“ heißt die Vorstellung, und schon die Bühne signalisiert den Bruch zum humorvollen „Karneval des Glücks“: Blutrotes Licht leuchtet die Wand an. Das Trio tritt ganz in Rot auf. Der Saal ist verwandelt. Was eben noch verspielt und poetisch war, wird jetzt eindringlich, düster, konzentriert.
Katja Riemann liest eine eigene Geschichte vor. Sie erzählt von einem jungen Mann afrikanischer Herkunft, geboren in einem österreichischen Dorf, dort von den Menschen geliebt. Er ist ein großer Sänger und zieht nach Frankfurt, um dort Gesang zu studieren. Riemann bezeichnet ihn als „Freund“ – obwohl sie ihn erfunden hat. Dann kommt der 19. Februar 2020: Riemanns Freund sitzt mit einem anderen in einer Shisha-Bar in Hanau. Er wird den Abend nicht überleben. Der deutsche Attentäter Tobias Rathjen erschießt ihn und neun weitere Menschen – aus rassistischem Wahn.
Riemann erzählt behutsam. Einige schließen die Augen, andere blicken gebannt auf die Bühne. Zunächst erklingt Mozarts Sonate KV 301, ein Bezug zur österreichischen Herkunft der Figur. Später bricht Janáčeks Sonate für Violine und Klavier eruptiv hervor: wütend, schmerzlich, verzweifelt. Riemann hat ihren Charakter erfunden – aber sie macht deutlich: Jeder der in Hanau Ermordeten hat eine Geschichte. Träume. Familie. Oft wird über den Täter gesprochen. Dieser Abend gibt den Anstoß, sich mit den Geschichten der Opfer zu befassen. Und er zeigt, wohin verführerische Ideologien führen können: hin zum Hass, zur Gewalt.
Wie können Angehörige weiterleben nach solch einer Tat? Dieser Frage widmet sich der nächste Text: „Ihr werdet meinen Hass nicht bekommen“, geschrieben von Antoine Leiris, dessen Frau 2015 beim Terroranschlag auf das Pariser Bataclan-Theater getötet wurde. Leiris antwortet den Terroristen, jedoch nicht mit Rache, sondern mit der unabdingbaren Liebe zu seiner Frau und seinem Kind. Riemann stellt dem einen Auszug aus Filippo Tommaso Marinettis „Manifest des Futurismus“ gegenüber.
Darin verherrlicht Marinetti Hass und Krieg als schöpferische Kräfte. Am Ende des Abends wird Gustav Mahlers Vertonung von Friedrich Rückerts Gedicht „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ nicht gesungen – das Gedicht wird zur Musik gesprochen. Rückerts Text bleibt als stille Mahnung stehen, als Frage: Was tun, wenn die Welt zu laut, zu schnell, zu grausam wird?
Mit den beiden Veranstaltungen „Miteinander und Füreinander I und II“ haben Katja Riemann, Franziska Hölscher und Marianna Shirinyan gezeigt, was Kunst vermag. Sie kann berühren, verbinden und aufrütteln. Sie erinnert uns an das Menschliche im Menschen, an die Verantwortung, nicht zu hassen. Und an die Möglichkeit, trotz allen Leids weiterzuleben. Das Publikum dankt im Stehen – für einen Abend, der in seiner Gegensätzlichkeit ein Ganzes war.
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