Vor über 100 Jahren als Gedenktag für die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges ins Leben gerufen, hat der Volkstrauertag heute ein eingestaubtes Image. Das Gedenken an die Verstorbenen gerät alleine aufgrund des demografischen Wandels von Jahr zu Jahr immer weiter ins Hintertreffen und jüngere Generationen wissen oft wenig mit den vielerorts traditionellen Veranstaltungen anzufangen. Dabei ist der Volkstrauertag angesichts zweier tobender Kriege in diesem Jahr am Sonntag, 19. November, relevanter denn je.
Wofür der Tag neben dem Gedenken noch steht und warum er so wenige Menschen erreicht, darüber sprechen wir mit Volker Schütze, dem Geschäftsführer des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Bezirksverband Nordbaden. Im Interview verrät der 54-Jährige außerdem, was der Blick in die Vergangenheit uns lehren sollte und warum bei einer Gedenkfeier zum Volkstrauertag auch Geflüchtete oder Bundeswehrsoldaten zu Wort kommen können.
Wie der Volkstrauertag am Sonntag, 19. November, in unserer Region begangen wird
Schwetzingen: 11 Uhr, Feierstunde in der Kapelle auf dem Friedhof. Andacht von katholischem Pastoralreferent Sebastian Binder und Wortbeitrag eines Schülers des Hebel-Gymnasiums. Gedenkworte von Bürgermeister Matthias Steffan mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Musikverein-Stadtkapelle.
Schwetzingen: 17 Uhr, Klavierabend von Pianistin Tatjana Worm-Sawosskaja im Palais Hirsch. Tickets für 25 Euro und 10 Euro (Schüler, Studenten) an der Abendkasse ab 16.30 Uhr. Freier Eintritt für Flüchtlinge und Kulturpassinhaber. Reservierung empfohlen unter 0172/750 7439 oder t.worm-sawosskaja@web.de.
Oftersheim: 11.30 Uhr, Feierstunde auf dem Friedhof. Gedenkansprache von katholischem Diakon Michael Barth-Rabbel. Ansprachen von Sozialverbandsvertreter Peter Mark und Bürgermeister Pascal Seidel mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Musikverein und Sängerbund Liederkranz.
Plankstadt: 11.30 Uhr, Gedenkfeier auf dem Friedhof. Gedenkansprache von evangelischer Pfarrerin Christiane Banse. Ansprachen von Bürgermeister Nils Drescher und Jugendbeirat Pascal Preuß mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Musikverein und Chorgemeinschaft.
Eppelheim: 14 Uhr, Gedenkfeier auf dem Friedhof. Ansprachen von evangelischer Pfarrerin Michaela Schmittberg und Bürgermeisterin Patricia Rebmann mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Trompeter Johannes Häfner.
Brühl: 11.30 Uhr, Gedenkfeier auf dem Friedhof. Gedenkansprache von katholischem Pfarrer Erwin Bertsch und Bürgermeister Dr. Ralf Göck mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Musikverein/Brühler Bläserakademie und Chorgemeinschaft.
Ketsch: Samstag, 18. November, 17 Uhr, Gedenkstunde auf dem Friedhof. Gedenkworte von Schülern der Neurottschule und Ansprache von Bürgermeister Timo Wangler mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Musikverein 1929 und Gesangsverein Sängereinheit. Fackelträger der Freiwilligen Feuerwehr.
Hockenheim: 11.15 Uhr, Gedenkstunde auf dem Friedhof. Begrüßung von Oberbürgermeister Marcus Zeitler und Gebet von Pfarrgemeinderätin Vera Vogel mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Blechbläserensemble der Stadtkapelle und AGV Belcanto.
Altlußheim: 11.30 Uhr, Gedenkstunde auf dem Friedhof. Friedensgebet von Charlotte Jung-Cron und Totengedenken von Bürgermeister Uwe Grempels mit Kranzniederlergung. Musikalische Gestaltung durch Musikverein der Freiwilligen Feuerwehr.
Neulußheim: 11.30 Uhr auf dem Friedhof. Gebet von evangelischer und katholischer Kirche und Ansprache von Bürgermeister Gunther Hoffmann mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Frauenchor Women‘s Voice.
Reilingen: 11.20 Uhr auf dem Friedhof. Gedenkansprache von evangelischer Pfarrerin Eva Leonhardt. Totenehrung von Bürgermeister Stefan Weisbrod und Schlusswort von Volksbundbeauftragtem Peter Schell mit Kranzniederlegung. Musikalische Gestaltung durch Musikverein Harmonie und Männergesangverein 1902. Ehrenwache durch die Freiwillige Feuerwehr. nl
Der Volkstrauertag scheint immer mehr aus dem Bewusstsein der Bevölkerung zu verschwinden. Warum passiert das Ihrer Meinung nach?
Volker Schütze: Wenn ich das wüsste, würde ich es natürlich gleich abstellen. Ich muss etwas ausholen: Der Volkstrauertag wird dankenswerterweise von den Kommunen durchgeführt. Es gibt nur noch ganz wenige Gemeinden, in denen der Volkstrauertag durch Ehrenamtliche des Volksbundes organisiert wird. Der überwiegende Teil der Veranstaltungen zum Volkstrauertag in Nordbaden wird durch die Gemeinden und Städte organisiert und durchgeführt. In vielen Gesprächen mit Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern wird mir berichtet, dass abzüglich der Offiziellen je nach Gemeinde vielleicht noch fünf bis zehn Leute an den Gedenkfeiern teilnehmen. Warum so wenig Menschen kommen, kann ich auch nur mutmaßen. Ein Grund könnte sein, dass die Menschen meinen, der Volkstrauertag dient nur dazu, dass man selbst als Person seinen im Krieg getöteten Vorfahren gedenkt. Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum bis in die Achtziger- und Neunzigerjahre Menschen zum Volkstrauertag gegangen sind. Die Generation der Kriegskinder wird jetzt aber immer älter oder ist gestorben. Deshalb müssen wir als Volksbund vermitteln, dass der Volkstrauertag nicht nur etwas mit persönlichem Gedenken zu tun hat, sondern ein Zeichen für den Frieden ist. Er betrifft also letztendlich uns alle in der Gesellschaft.
Gibt es noch weitere Gründe?
Schütze: Ich könnte mir vorstellen, dass der Name die Leute abschreckt und sie damit nichts anfangen können. Ich glaube, viele Menschen wissen gar nicht, worum es an diesem Tag geht. Diese Unkenntnis versuche ich seit ein paar Jahren, in Gesprächen mit den Gemeinden und der Presse zu beheben. Ich möchte vermitteln, dass der Volkstrauertag etwas sehr aktuelles ist und die gesamte Gesellschaft betrifft. Vielleicht haben der Volksbund und auch die Gemeinden versäumt, das in dieser Form zu kommunizieren.
Warum ist der Volkstrauertag derzeit aktueller denn je?
Schütze: Er war nie irrelevant, aber spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine herrscht in der breiten Bevölkerung ein Bewusstsein, dass der Krieg um uns herum tobt. Und das macht den Leuten bewusst, dass Krieg auf beiden Seiten zu Tod, Verwundung, Vertreibung und psychischem Trauma führt. Genau darum geht es beim Volkstrauertag: Wir schauen zurück auf die beiden Weltkriege und denken an die Kriegstoten, schlagen dabei aber immer wieder den Bogen in die Gegenwart. Das drückt sich aus in dem Totengedenken, das bei den Gedenkfeiern immer vorgetragen wird. Das wird seit 1952 gesprochen und wurde 2020 um terroristische, antisemitische und rassistische Gewaltakte ergänzt. Genau diese Themen haben wir heute. Darauf will auch der Volkstrauertag hinweisen, denn der Friede fängt schon im Inland an.
Welchen Mehrwert kann der Volkstrauertag in dieser Situation bieten?
Schütze: Viele wollen ein Zeichen für Frieden und gegen Gewalt, Krieg und Hass setzen – sowohl in der Welt als auch in der Gesellschaft. Es wäre ein schönes Zeichen, wenn Menschen verschiedener politischer Ansichten sich mal zusammenstellen und sagen würden: „Wir mögen zwar unterschiedliche Ansichten haben, aber wir alle wollen Frieden und unser Ziel sollte ein Miteinander sein.“ Das könnte am Volkstrauertag geschehen. Ich erlebe aber auch in den Kommunen Gedenkfeiern und Mahnwachen. Das Gedenken an die Toten könnte als Mahnung für den Frieden dienen.
Der Tag soll neben dem Gedenken an die Toten also auch zum Frieden mahnen.
Schütze: Das sind die zwei Aspekte. Wir haben auf der einen Seite die individuelle Trauer. Es gibt noch Menschen, die um die Toten vor allem des Zweiten Weltkrieges trauern. Ich konnte erst kürzlich einer Angehörigen sagen, dass wir ihren Onkel gefunden haben. Das hat die Frau emotional sehr bewegt. Für die ist das wichtig, zu wissen, dass der Volksbund ihren toten Onkel gefunden hat und er jetzt in Lettland auf einem Gräberfeld liegt. Das ist immer noch ein Thema, das aber aufgrund der demografischen Entwicklung nicht mehr so stark ist. Der andere Aspekt ist, ein Zeichen für den Frieden zu setzen. Wenn wir auf die Entstehung der beiden Weltkriege schauen, vor allem den Zweiten mit seinen antisemitischen und ideologischen Hintergründen, muss uns das immer wieder ermahnen, wie es dazu kommen konnte. Der Weg dorthin muss immer wieder in den Blick genommen werden, nach dem Motto: Wenn wir in die Vergangenheit schauen, können wir die Gegenwart erklären und die Zukunft gestalten. Darum geht es und ich denke, das ist das Alleinstellungsmerkmal dieses Gedenkens. Es ist ein gesellschaftlicher Auftrag, den wir alle haben. Dass wir in Deutschland in Frieden leben, ist nichts Gott gemachtes, sondern auch Ergebnis harter politischer Arbeit von Politikern, aber auch von Ehrenamtlichen, von Städtepartnerschaften, von Begegnungen von Menschen unter verschiedenen Religionen, die in Vereinen stattfinden. Meines Erachtens ist der Volkstrauertag das einzige überkonfessionelle und überparteiliche Angebot, innezuhalten und diesen Friedensaspekt zu reflektieren und sich zu fragen, was wir als Einzelne, als Gemeinde oder Gesellschaft beitragen können, damit es friedlich ist.
Wie erreichen Sie mit Ihren Botschaften alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten?
Schütze: Das tun wir leider nicht, fürchte ich. Das ist für mich ein großes Dilemma. Deshalb freue ich mich, wenn Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sich dem Thema annehmen. Ich kann nur Impulse liefern, aber umsetzen müssen es am Ende andere. Man sollte über Veränderungen in der Veranstaltungsform nachdenken. Einige Gedenkveranstaltungen sind sehr traditionell mit Ritualen und Symbolen, die ohne Weiteres heute nicht mehr verstanden werden. Vielleicht müsste man die erklären oder ergänzen. Da freut es mich, dass es Bürgermeisterinnen und Bürgermeister gibt, die sich auf einen Anpassungsprozess einlassen.
Wie können solche angepassten Gedenkveranstaltungen aussehen?
Schütze: Da gibt es sehr unterschiedliche Beispiele: Etwa der Versuch, Jugendliche einzubinden – Konfirmanden oder Azubis aus der Gemeinde zum Beispiel – und ihnen Raum zu geben, sich Gedanken zum Thema Frieden zu machen. Die Stadt Leimen hat einen Arbeitskreis zwischen Verwaltung, Kirche und Schulen gebildet, um gemeinsam zu überlegen, wie man das Format inhaltlich so anpassen kann, dass es interessanter für jüngere Menschen ist.
Wie würden Sie sich die Gestaltung des Volkstrauertages wünschen?
Schütze: Das ist genau die Frage, die ich immer von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern gestellt bekomme. Das kann ich aber nicht sagen, weil ich die Kultur der einzelnen Gemeinden nicht kenne. Ich sage ihnen immer, sie sollen sich bitte mit den Menschen zusammensetzen, die an dem Thema dran sind. Das sind die Schulen, die das Thema im Unterricht behandeln. Das sind auch die Kirchen. Das sind vielleicht auch Flüchtlingsinitiativen, denen das Thema am Herzen liegt. Es gab mal einen Ortsvorsteher, der hat am Volkstrauertag Geflüchtete zu Wort kommen lassen. Die haben teilweise schon 20 bis 30 Jahre oder länger in diesem Ort gelebt. Das hat natürlich Wirkung. Man kann auch mal Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten zu Wort kommen lassen. Wir haben nun mal eine Parlamentsarmee, die Krieg inzwischen hautnah erlebt. Es gibt da schon Formen der Aktualität. Ich durfte mal dabei sein, wie eine Schulklasse Friedenswünsche in den Herkunftssprachen ihrer Familien vorgetragen hat. Das waren fast alles Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden, aber alle Multikulti-Wurzeln hatten. Das fand ich sehr emotional und vor allem authentisch. Der Rest der Feier war traditionell mit Kranzniederlegung, Chorgesang und Rede vom Stadtrat. Ich sage also nicht, dass wir den Volkstrauertag um 180 Grad drehen und zum Event machen müssen, aber wir können uns doch überlegen: Wie können wir die traditionelle Form durch Einbeziehung neuer Gruppen ergänzen? Meine Hoffnung ist, dass dadurch mehr Menschen daran teilnehmen.
Welche Bedeutung hat der Volkstrauertag für Sie persönlich?
Schütze: Ich bin seit knapp zehn Jahren beim Volksbund und muss gestehen, dass ich vorher zwar wusste, dass es diesen Gedenktag gibt. Mein Vater ist als Ortsratsmitglied dorthin gegangen, aber was das sollte, wusste ich nicht. Bis ich beim Volksbund angefangen habe zu arbeiten, wusste ich nicht, was es damit auf sich hat. Das ist mir erst in der Beschäftigung mit dem Thema bewusst geworden. Ich fände es schön, wenn die Leute hingingen, um Gemeinschaft zu erleben. Es ist doch schön, wenn ich in den Gottesdienst gehe und Gemeinschaft erlebe. Das stiftet ja auch etwas. Und zum Volkstrauertag zu gehen, stiftet vielleicht Hoffnung. Das ist auch eine zentrale Aussage im Totengedenken: „Unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.“ Wenn Leute sich das gemeinsam anhören, habe ich die Hoffnung, dass das etwas mit ihnen macht. Bei all dem Irrsinn, der gerade um uns herum tobt, hoffe ich, dass der Volkstrauertag einen Funken des Friedens in die Gesellschaft hineinträgt.
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