Schwetzingen. Mit einer bewegenden Feier gedachten am Samstag Menschen aus Schwetzingen und Umgebung den unmenschlichen Schicksalen von Juden in Deutschland zur Zeit des Dritten Reichs und verbanden diese Erinnerungen mit der Mahnung, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Musik jüdischer Musiker, eine inszenierte Tagebuchlesung durch Schülerinnen und Schüler des Hebel-Gymnasiums, die Schwetzinger Erstaufführung der Komposition „Shoah“ in der evangelischen Stadtkirche und ein anschließender Gang zu den Mahnmalen in der Zeyherstraße waren Bestandteile der Gedenkfeier am 9. November.
Eingeleitet wurde sie durch ein von John Williams komponierten Thema aus dem Film „Schindlers Liste“ (1993) des jüdischen Regisseurs Steven Spielberg nach einem gleichnamigen Roman von Thomas Keneally. Der Film über den Holocaust beruht auf wahren Begebenheiten. Gespielt wurde die Filmmusik von dem Konzertmeister Daniel Spektor an der Violine und dem Kirchenmusiker und Pianisten Alexander Levental am Klavier.
Erinnerung an Krieg in Nahost bei Gedenken in Schwetzingen
Pfarrer Steffen Groß leitete bei seiner Begrüßungsrede gleich über in die Gegenwart. Er erinnerte an den brutalen Überfall der Hamas auf Israel, der gerade ein Jahr zurückliegt, und an die darauf immer häufiger werdenden antisemitischen Vorfälle hierzulande. Die Solidarität mit Israel bei dessen Einmarsch in Gaza sei anfangs groß gewesen. Aber heute blicke man mit Entsetzen auf den Krieg im Nahen Osten, sei geschockt von den Gewaltfantasien rechtsextremer Minister in der israelischen Regierung.
„Es war selten so schwer, Israel zu lieben“, schloss er und wünschte sich Frieden. Dann blickte er 86 Jahre zurück zur Reichspogromnacht, die auch in Schwetzingen, vor aller Augen stattfand. Aber: „Unsere jüdischen Mitmenschen in Deutschland sind nicht verantwortlich für das, was in Israel geschieht“, sagte er eindringlich und ermahnte: „Wir sind zur Erinnerung verpflichtet – und zur Übernahme von Verantwortung, zum Widerstand, wann immer Jüdinnen und Juden beschimpft, beleidigt oder gar bedroht werden.“ Es falle schwer, das Menschheitsverbrechen, das die Nazis verübt haben, in Worte zu fassen. „Die Musik aber kann sich dem Unsagbaren und Unerträglichen auf ihre ganz eigene Weise nähern.“
Komposition und Gedicht ergänzen sich bei Feier in Schwetzingen
Damit leitete er über zu dem Werk „Shoah“ von der Komponistin Tamara Ibragimova aus Ketsch, die das Stück anlässlich des 80. Jahrestags der Pogromnacht in der Synagoge in Speyer uraufgeführt hatte. In dem Stück wird das Gedicht „Holocaust“ von Musikerin und Dichterin Tatjana Worm, ebenfalls aus Ketsch, rezitiert. Die deutsche Übersetzung, die zuerst vorgelesen wurde, stammt von Michael Rittmann. Es ist unglaublich, wie aussagekräftig und berührend wenige Worte sein können!
Das Stück wurde gespielt von Daniel Spektor (Violine), Konstantin Malikin (Violoncello) und Paul Hafner (Schlagzeug). Die Komponistin selbst, Tamara Ibragimova, sprach das Gedicht auf Russisch, in der Sprache, in der es geschrieben worden war; die Autorin Tatjana Worm kommt ursprünglich aus Usbekistan, die Melodie ihres Gedichtes könne man in einer anderen Sprache nicht wirklich wiedergeben, sagte sie bei einem späteren Interview. Das Stück „Shoah“ erinnert an das Grauen der Reichspogromnacht mit disharmonisch klingendem Dialog von Violine und Violoncello, dumpfen Schlägen der Pauken, dazwischen Glockentöne – und doch schleicht sich zum Schluss eine zarte Harmonie ein, die allmählich verklingt. In dem Gedicht kommt zum Schluss ein kleines Mädchen vor, das überlebt…
Inszenierung aus NS-Zeit bei Gedenktag in Schwetzingen
Auch junge Leute haben sich mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt, recherchiert und sich schließlich eine berührende historisch-literarische Inszenierung ausgedacht, die sie nun aufführten. Sie lasen Tagebucheinträge von gleichaltrigen jüdischen Menschen während der Nazi-Zeit vor, kleine Alltagsgespräche, über Schule, Verabredungen, Kino, erste Liebe. Aber einer nach dem anderen der Jugendlichen war plötzlich verschwunden, wie aus den Gesprächen der anderen hervorging; bei jedem Abgang legte er oder sie das Tagebuch auf einen Stapel von Büchern, bis zum Schluss keiner mehr ein Buch in der Hand hatte. Mit dieser Versinnbildlichung des unerklärten Verschwindens waren die Jugendliche ganz nahe und fühlbar an der Wirklichkeit, als Juden „abgeholt“ und in Konzentrationslager gesteckt wurden. Das Stück wurde von den Schülerinnen Mia Ludwig und Emily Corbett geschrieben.
Die Jugendlichen gingen noch weiter und leisten einen Transfer in die heutige Zeit; sie bezogen Stellung mit den Worten: „Unser Beitrag soll nicht nur Mitleid symbolisieren, sondern auch Trauer, Wut, Respekt und Achtung – so können wir den Opfern des Holocaust begegnen.“ Für sie bedeutet das: „Nur mit Wissen über unsere Geschichte können wir begreifen, dass jeder von uns die Verantwortung trägt, so etwas nie wieder geschehen zu lassen.“
Alles hat sich direkt vor der eigenen Haustür abgespielt
Damit wendeten sie sich klar gegen Rassismus, Antisemitismus und nationalsozialistische Ideologien. Sie bekannten, dass ihnen nur durch ihre intensive Auseinandersetzung mit dem Thema klarwurde, dass sich das alles praktisch direkt vor ihrer Haustür abgespielt hat. Sie hofften auf einen „moralischen Kompass, der von uns verlangt, alles zu tun, um das ,Nie wieder‘zu wahren.“
Nach diesem beeindruckenden Auftritt der Jugendlichen spielten Cellist Malikin und Pianist Leventhal ein Fragment aus „Lol Nidrei“ von Max Bruch. Es ist Teil der Liturgie am Vorabend des jüdischen Versöhnungstages Jom Kippur, des höchsten jüdischen Feiertages. Danach machten sich die Anwesenden auf den Weg zum Mahnmal in der Zeyherstraße. Dort sprachen Oberbürgermeister Matthias Steffan als Vertreter der Gemeinde, Pfarrer Steffen Groß und Diakonin Margit Rothe sowie Pastoralreferent Bernhard Zöller i.R. als Vertreter der Kirchen, Joachim Hartung als Vertreter des Ortsverbandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes und Dr. Henning Hupe, Lehrer am Hebelgymnasium Schwetzingen, die Opfer und ihre unsäglichen Leiden direkt an, während die Anwesenden bei jedem Absatz sagten: „Wir vergessen euch nicht“. Gleichzeitig wurde vor dem Mahnmal eine Kerze angezündet. Am Ende erfolgte eine Schweigeminute. Zum Schluss spendete Pfarrer Groß einen Segen.
Die Gedenkfeier wurde vorbereitet von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Schwetzingen, vom Hebelgymnasium, von der Stadt Schwetzingen und vom Deutschen Gewerkschaftsbund Schwetzingen-Hockenheim.
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