Schwetzingen. „Wir haben dort nichts Schlechtes getan“, zitiert Gerhard Wiese, der vor 60 Jahren der jüngste Ankläger im Auschwitz-Prozess war, mit einem Kopfschütteln die Angeklagten. Er hätte sich so sehr gewünscht, dass bei den 22 Angeklagten in diesem Jahrhundertprozess Reue erkennbar gewesen wäre. Dies sei aber nicht der Fall gewesen, sagt Wiese im Gespräch mit Landtagsvizepräsident Daniel Born.
Born hat den heute 94-jährigen damaligen Staatsanwalt in Frankfurt für die nächste Ausgabe seiner Kurpfalz-Horizonte interviewt. Der Videomitschnitt dieses Gesprächs über die juristische Aufarbeitung der Verbrechen von Auschwitz ist das Herzstück des kommenden Kurpfalz-Horizonts, der am Montag, 13. November, 18 Uhr, im Josefshaus in Schwetzingen stattfindet.
60 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess: Gespräch mit dem jüngsten Ankläger
Ihm war zunächst nicht bewusst, dass dieser Prozess bis heute Bedeutung für sein Leben haben würde, so Wiese. Seit Jahrzehnten im Ruhestand ist er nach wie vor ein gefragter Zeitzeuge – vor allem für Schulklassen. Für den SPD-Abgeordneten Born ist Wiese ein Mann, der Herausragendes für die deutsche Demokratie geleistet hat: „Der Auschwitz-Prozess hat nicht nur sein Leben stark beeinflusst – er hat Deutschland für immer verändert. Danach waren Leugnen und Schweigen nicht mehr möglich.
Ohne die Erinnerung daran, dass in Auschwitz über eine Million Menschen ermordet wurden, an den Folgen von Zwangsarbeit, Hunger, Krankheiten, Misshandlungen oder den unmenschlichen Lebensbedingungen starben, konnte es kein Lernen für die Zukunft geben“, so Born, der dieser Spezialausgabe der Kurpfalz-Horizonte den Titel „Erinnern für die Zukunft“ gegeben hat.
Kurpfalz-Horizonte Spezial: Erinnern für die Zukunft
Mit dem Talkformat will Born auch mit der dritten Ausgabe aufzeigen, was Demokratie starkmacht: „Die Erinnerung an Gräuel und Deportationen, an Gewaltherrschaft und an diese menschenverachtende Diktatur ist ganz wesentlich für unsere heutige Demokratie, denn sie unterstreicht das Privileg, das wir heute haben: Wir dürfen seit über 70 Jahren in einem freien Land, in einer Demokratie und einem Rechtsstaat leben. Und das ist keine Selbstverständlichkeit. Diese Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bei uns mögen nicht perfekt sein. Aber sie sind stark und sie orientieren sich an dem Grundsatz, der aus gutem Grund und zum Glück der erste Satz unseres Grundgesetzes geworden ist: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Auf diesen wichtigsten Leitsatz des Grundgesetzes angesprochen, berichtet Wiese nachdenklich von einer Zeugenaussage, die dem 94-Jährigen auch 60 Jahre später noch lebendig vor Augen steht: Es ist die Zeugenaussage von Dr. Berner.
Der damalige Arzt wurde mit seiner Familie mit einem Transport rumänischer Juden nach Auschwitz deportiert. Auf der Rampe erkannte Berner den SS-Mann, der die Entscheidung „Gas oder Lager“ traf, und bat ihn um Hilfe. Berner kannte ihn aus der gemeinsamen Heimat: Er war noch im Besitz der Visitenkarte dieses Lager-Apothekers, der zuvor in Rumänien als Pharmavertreter gearbeitet hatte. Berners Bitte fand kein Gehör: Mit einer einzigen Handbewegung wurden Berners Frau und seine Zwillinge in die Gaskammer geschickt.
Nach der Aussage von Dr. Berner war es im Sitzungssaal vollkommen still. Es war eine sehr bedrückende Aussage, die allen sehr naheging
„Nach der Aussage von Dr. Berner war es im Sitzungssaal vollkommen still. Es war eine sehr bedrückende Aussage, die allen sehr naheging,“ sagt Wiese. Es sind solche erschütternden Zeugenaussagen überlebender Auschwitz-Häftlinge, die nach 18 Jahren kollektiven Schweigens und Verdrängens in der deutschen Gesellschaft zu einer Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Holocausts führten.
Landtagsvizepräsident Born im Gespräch mit Auschwitz-Zeitzeugen
Beim Kurpfalz-Horizont am 13. November wird die Videoeinspielung des Interviews mit Gerhard Wiese durch ein Gespräch flankiert, das Born mit Dr. Harald Stockert, dem Direktor des Stadtarchivs Mannheim, führen wird. Seit Frühjahr dieses Jahres leitet Stockert das Marchivum. Im ehemaligen Hochbunker, seit 2018 ein besonderer Lern-, Erlebnis- und Forschungsort, wird nicht nur Geschichte präsentiert.
„Das Marchivum ist ein Ort, an dem mit unseren demokratischen Werten spürbare Arbeit gemacht wird und an dem unsere Demokratie lebendig ist. Hier erfährt der Besucher hautnah, was sich verändert, wenn eine Demokratie zerstört wird und wie sich die Radikalisierung mit ganz banalen Entscheidungen einschleicht. Aber hier wird auch der Blick auch auf das Danach geweitet: Wie es gelungen ist, unsere Demokratie nach der NS-Diktatur besser und stärker wiederaufzubauen,“ freut sich Born darauf, mit Stockert Erinnerung zu teilen und gleichzeitig Geschichten des Gelingens zu erzählen.
Dass aus der Erinnerung Zukunft wächst, ist ein Geschenk, eine Chance und zugleich auch eine Aufgabe, zu der ich mit den Kurpfalz-Horizonten beitragen möchte
„Dass aus der Erinnerung Zukunft wächst, ist ein Geschenk, eine Chance und zugleich auch eine Aufgabe, zu der ich mit den Kurpfalz-Horizonten beitragen möchte“, so der Vizepräsident des Landtags in seiner Einladung an interessierte Menschen. „Großes Interesse dürfte bei der Spezial-Ausgabe der Horizonte-Serie mit dem einzigen Prozessbeteiligten, der heute noch vom größten Strafprozess der Nachkriegszeit berichten kann, gegeben sein.“
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Erinnerung an Naziverbrechen ist wichtig