Schwetzingen. „Jeder Mensch hat einen Namen“, so dichtete die Schriftstellerin Zelda Schneurson Mishkovsky und fährt fort „… den Gott ihm gegeben hat, den seine Eltern ihm gegeben haben …“ Nicht erst seit dem Aufruf des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Jahr 2009, der Opfer des Holocaust an diesem 27. Januar zu gedenken und an ihre Namen zu erinnern, besteht diese Verpflichtung.
Schon im Jahr 1951 hat man in Israel begonnen, die Namen der Opfer weltweit zu sammeln. Dazu wurde die Gedenkstätte „Yad Vashem“ gegründet und nach dem Wort aus der hebräischen Bibel benannt: „… ihnen will ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben … der nicht getilgt werden soll“ (Jesaja 56,5). Die dort eingerichtete „Hall of Names“ (Halle der Namen) hat sich inzwischen zum weltweit größten digitalen Gedenkbuch entwickelt.
Spurensuche in Holland
Gibt man in der Datenbank den Namen Leopold Linder ein, der Junge, dessen kurze Lebensgeschichte berichtet werden soll, so erscheint ein „Gedenkblatt“ für ihn in holländisch („Getuigenis“). Ausgefertigt wurde dieses Gedenkblatt wie auch weitere Blätter für die Eltern Manfred und Elsa, geborene Gottlieb, und für die Großmutter von Leopold, Adele Linder, geborene Sommer, von seiner holländischen Kinderpflegerin im Jahr 2001. Auf dem Foto sehen wir den etwa fünf Jahre alten Leopold, auch „Poldi“ genannt. Er wurde am 22. Januar 1935 in Rotterdam geboren. Dort lebten seine Eltern. Der Vater war Repräsentant für seine Firma, die „Rhenania Schiffahrts- und Speditionsgesellschaft m.b.H.“ mit Hauptbüro in Mannheim, B 6.26, in der Hafenstadt an der Mündung des Rheins.
Der gemeinsame Weg der Eltern begann in Schwetzingen, als die Tochter Elsa der Geschäftsleute Pinkas und Golde Gottlieb – sie führten ein Möbel- und Einrichtungsgeschäft an den Kleinen Planken in der Mannheimer Straße – im Jahr 1929 den Prokuristen Manfred Linder aus Frankfurt am Main heiratete. Ursprünglich mit seiner Familie in Mannheim wohnend, vertrat er auch in Frankfurt die „Rhenania“, bis die Familie nach Rotterdam zog und sich in den Jahren der beginnenden Verdrängung der Juden in Deutschland nach 1933 in den Niederlanden noch sicher fühlen konnte.
Nach Auschwitz deportiert
Es ist nicht bekannt, wie lange der Vater seine Stellung behalten konnte, jedenfalls zog die junge Familie mit ihrem Kleinkind im Jahr 1939 nach Gouda um, wo sie in der Nähe der Großmutter von Leopold, Adele Linder, eine Wohnung fanden. Ihre Familiengemeinschaft wurde jäh auseinandergerissen, als nach dem Überfall der deutschen Truppen am 10. Mai 1940 und der Besetzung der bisher neutralen Niederlande auch dort die nationalsozialistische Rassenpolitik um sich griff. Ab Mitte Juli 1942 wurden die Juden im Durchgangslager Westerbork zusammengezogen. Dabei wurden auch Leopold Linder und seine Eltern erfasst. Anfang Oktober 1942 mussten sie den Deportationszug mit dem Endpunkt Auschwitz besteigen. Nach einer dreitägigen Fahrt kamen sie am 5. Oktober im Vernichtungslager Auschwitz an. Dass sie dort ermordet wurden, ist nirgendwo vermerkt, aber sicher. Nur auf dem Grab des Großvaters Leopold Linder (von ihm hat der Enkel den Vornamen nach guter jüdischer Tradition) auf dem israelitischen Friedhof in Mannheim findet sich eine Gedenkplatte, auf der die Namen der Opfer verzeichnet sind: Adele Linder, Manfred Linder, Elsa Linder und „Poldi“ Linder.
Schuhgeschäft in Schwetzingen
Für die Geschichte von Lotte Glaser und ihrer Familie blicken wir nach Osten, von Schwetzingen über Mannheim nach Prag. Kurt Glaser war mit Mutter Clementine, Vater Rudolf und Bruder Hans mit Familie im Juli 1934 nach Mannheim gezogen. In Schwetzingen hatten sie versucht, in der Mannheimer Straße ein Schuhgeschäft zu betreiben – aufgrund der nach der 1933 eintretenden Blockade jüdischer Geschäfte jedoch ohne Erfolg. Die Eltern von Lotte – Kurt und Paula Glaser – trafen sich in Mannheim und heirateten dort. Im Jahr 1936 mussten sie sich von Rudolf Glaser verabschieden, der in Mannheim starb und auf dem israelitischen Friedhof bestattet ist. Im Juni 1938 brachen Kurt und Paula Glaser mit Mutter Clementine von Mannheim auf nach Osten, in die Heimat ihrer Vorfahren, die Tschechoslowakei, nach Böhmen und Mähren und schließlich nach Prag. Unterwegs, direkt jenseits der Grenze, in Aussig an der Elbe (tschechisch: Ustinad Labem) brachte Paula Glaser die Tochter Lotte, später auch „Lotta“ oder „Lotty“ genannt, am 27. Juni 1938 zur Welt. Der Aufenthalt der jungen Familie zusammen mit der Großmutter in Prag wurde bald überschattet vom Einmarsch der deutschen Truppen am 15. März 1938 und der Annexion der Tschechoslowakei.
Was zuerst nur befürchtet wurde, trat in dem nun gebildeten „Protektorat Böhmen und Mähren“ ein: unter deutscher Herrschaft, später durch den berüchtigten „Reichsprotektor“ Reinhard Heidrich, kamen die deutschen Rassengesetze zur Anwendung und die Juden wurden in die Ghettos und Vernichtungslager deportiert. Die Eltern Glaser mit ihrer kleinen, noch nicht vierjährigen Lotte mussten am 28. April 1942 Prag verlassen und wurden über das Ghetto Theresienstadt am 30. April 1942 in das Ghetto und Vernichtungslager Zamosc südlich von Lublin in Ostpolen verbracht. Dort wurden sie an einem unbekannten Tag ermordet.
Von der Großmutter und Mutter Clementine mussten sie sich schon am 16. Oktober 1941 verabschieden, als sie nach Lodz/Litzmannstadt verbracht wurde und dort zu Tode kam. (Quelle: Gedenkblatt aus Yad Vashem, https://yvng.yadvashem.org, Opferdatenbank, www.holocaust.cz)
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