Schwetzingen. Bundespolitisch jagt eine Schlagzeile die nächste – sogar bis kurz vor der Sommerpause sorgt die deutsche Politik für Aufsehen. Zuletzt die Wahl der drei Bundesverfassungsrichter, auf die sich die Regierung zunächst geeinigt hat, die dann aber doch abgesagt werden musste. „Grund sind Vorbehalte der Union gegen die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf, unter anderem wegen eines Plagiatsverdachts und ihrer Haltung zum Abtreibungsrecht“, erklärt der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR).
Dass die nun noch amtierenden Bundesverfassungsrichter ihren wohlverdienten Ruhestand antreten können, verzögert sich somit bis mindestens in den September. Aber was genau ist passiert und weswegen? Darüber haben wir mit Dr. Alessandro Bellardita, Richter, Krimiautor, Publizist und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Rechtspflege in Schwetzingen, gesprochen.
Herr Dr. Bellardita, können Sie uns erklären, welche Vorbehalter es gegen Frauke Brosius-Gersdorf gibt?
Dr. Alessandro Bellardita: Meines Erachtens geht es da weniger um den offensichtlich vorgeschobenen, fassadenhaften Grund der Plagiatsvorwürfe gegen die Richterin. Das ist zwar ein polittaktisch kluger Vorbehalt, weil sich solche Vorwürfe bekanntlich nicht schnell klären, sondern das bedarf Zeit und deswegen weiß die CDU, dass die Kandidatin dadurch natürlich vorerst weg vom Tisch ist, weil man einfach die Zeit nicht hätte, die Vorwürfe zu widerlegen. Und der eigentliche, tieferliegende Grund ist offensichtlich die Tatsache, dass die Kandidatin Teil der Kommission war, die sich in der vergangenen Legislaturperiode für die Liberalisierung des Abtreibungsrechts ausgesprochen hat und das passt wohl vielen innerhalb der CDU nicht, weshalb es dann so Gegenwind gegen den Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn kam.
Ob das Bundesverfassungsgericht Schaden genommen hat, ist umstritten. Was glauben Sie?
Bellardita: Man muss an dieser Stelle klipp und klar sagen, dass es nur sehr selten in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts es dazu gekommen ist, dass einzelne Kandidaten abgelehnt wurden, weil sie ganz bestimmte Meinungen vertreten. Insofern schätze ich den Schaden als groß ein, denn das Bundesverfassungsgericht genießt vor allem bei der Bürgerschaft eine gewisse Hochachtung, weil man zwar weiß, dass die Kandidaten und dann eben gewählten Richter einer gewissen politischen Richtung angehören, aber dann trotzdem in ihrer juristischen Meinung und Auslegung ihrer juristischen Meinung frei sind. Wenn man allerdings bereits bei der Wahl die Meinung des Kandidaten so fokussiert und die gesamte bisherige Arbeit der Richter im Prinzip filtert, dann ist das natürlich auch ein Schaden für die Institution. Und dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht für unsere Demokratie natürlich von besonderem Stellenwert ist, ist es sehr schade, dass es dazu gekommen ist.
Ist es aus juristischer Sicht nachvollziehbar, dass die Union diese Richterin wegen ihrer Einstellung zum Abtreibungsrecht zu großen Teilen nicht im Amt sehen möchte?
Bellardita: Es ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, weil die Meinung einer einzelnen Richterin natürlich nichts an der Tatsache ändert, dass es immer erst mal eines Gesetzes bedarf, bevor ein Gericht so wesentliches Thema beeinflussen könnten. Die Veränderung des Abtreibungsrechts kann am Ende eben nur vom Parlament beschlossen werden, nämlich durch eine Reform des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch. Vor dem Hintergrund verstehe ich in keiner Weise, inwiefern jetzt die Wahl von Brosius-Gersdorf dies irgendwie fördern oder beeinflussen könnte. Denn die Richterin ist nicht Teil der Legislative, sie hält sich nur an das geschriebene Recht. Und dass in dieser Legislaturperiode in der Sache Paragraf 218 irgendetwas passiert, das kann ich mir auch beim besten Willen nicht vorstellen.
Wenn Brosius-Gersdorf in dieser Position gar keinen Einfluss auf das Abtreibungsrecht hat, was glauben Sie dann, weswegen die CDU den Streit mit ihrem Koalitionspartner SPD in Kauf nimmt, nur um sie zu verhindern?
Bellardita: Diese ganze Geschichte rund um die nicht erfolgte und damit gescheiterte Wahl der Bundesverfassungsrichter ist im Prinzip eher symbolhafter Natur. Und die kann man nur so deuten, dass die Union ein relativ klares Zeichen nach rechts setzt. Diese Art, mit Kandidaten, die eher liberal sind, umzugehen, ist natürlich mehr als konservativ. Es ist reaktionär, anders kann man das nicht bezeichnen.
Ich würde mich an dieser Stelle tatsächlich einer Metapher bedienen, nämlich von Nietzsche, als er das erste Mal in seinem Leben das Meer erblickte. Das war in Italien, genau genommen in der Nähe von Genua, wo er einen Einfall hatte. Er hat gesagt, dass es schon merkwürdig ist, dass selbst erfahrene Seemänner, wenn sie sich auf See befinden, plötzlich so eine Art Sehnsucht verspüren, eine Sehnsucht nach der Erde. Er hat das als Heimweh bezeichnet. Und das ist etwas, was eben mit einer Gesellschaft passiert, die an sich liberal ist. Und in den letzten 20 bis 30 Jahren haben wir viele wichtige Schritte in Richtung Liberalisierung der Gesellschaft gemacht. Jetzt tritt das Gefühl bei vielen ein, dass die Orientierung nicht mehr besteht. Und diese Nostalgie, die eintritt, führt eben genau zu der Sehnsucht nach der Erde. Und diese Sehnsucht nach der Erde ist alles andere als positiv, weil wir tatsächlich extreme reaktionäre Züge beobachten können.
Wenn man Umfragen Glauben schenkt, sind etwa 70 bis 80 Prozent für die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Dann ist es schon verwunderlich, wenn die Politik sich von einer ideologischen Grundhaltung treiben lässt, die eben genau in die entgegengesetzte Richtung geht. Und das ist traurig und vor allem ist es irgendwo ein Liebäugeln auch mit einer Partei, die alles andere als demokratisch ist und am rechten Rand unserer Demokratie steht, nämlich der AfD. Und wenn man sich mit den Meinungen einzelner Abgeordneter der AfD in diesem Zusammenhang auseinandersetzt, zum Beispiel eine Beatrix von Storch, die immer wieder gegen Menschen, die die Abtreibung liberalisieren wollen, wettert, dann kann man gut ahnen, woher eigentlich dieser Gegenwind kommt. Ich hoffe, dass wir keine Verhältnisse wie in der Ampelkoalition bekommen, wir brauchen nicht nur stabile Regierungsverhältnisse, sondern vor allem handlungsfähige Regierungen.
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