75 Jahre Grundgesetz

Vortragsreihe in Schwetzingen: Zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit

Dr. Alessandro Bellardita begibt sich in das Spannungsfeld der Grundsätze und macht auf Handlungsbedarf aufmerksam - hat aber auch viel Lob für das Grundgesetz übrig.

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Stefan Kern
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Dr. Alessandro Bellardita spricht in Schwetzingen über das Grundgesetz. © Frank Molter/dpa

Schwetzingen. Es war der dritte Teil der bis dato brillanten Vortragsreihe mit dem Richter und Dozenten Dr. Alessandro Bellardita zum Grundgesetz in der Volkshochschule. Widmete sich der Experte in den ersten beiden Teilen der Entstehungsgeschichte und der Freiheit, nahm er sich nun die Gleichheit vor. Eine durchaus wacklige Konstruktion, denn sie gilt nicht absolut, sondern relativ – und sie ist aufs engste mit Gerechtigkeitsvorstellungen verknüpft, die gleichsam nicht in Stein gemeiselt wurden, sondern über die Zeit hinweg einem erheblichen Wandel unterliegen.

Gleichheit und Gerechtigkeit mussten und müssen immer wieder erkämpft und gegen Privilegien-Denken verteidigt werden. Ein erster mächtiger Aufschlag war die Französische Revolution 1789 mit ihrem Schlachtruf „Liberté, Egalité, Fraternité“ („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“). Es war eine große Bewegung, um die Privilegien der Adligen abzuschaffen. Der Staat habe alle Bürger gleich zu behandeln. In Deutschland wurde daraus genau 160 Jahre später: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (Grundgesetz Artikel 3, Absatz 1).

Eine große Bandbreite bei Definitionen von Gleichheit

So einfach die wenigen Worte klingen, so groß ist das Spielfeld, das diese Worte fassen. Denn was Gleichheit bedeutet, muss immer wieder ausgehandelt werden, genau wie die Vorstellung von Gerechtigkeit und das daraus entstehende Recht. Im alten Griechenland herrschte die Vorstellung von der Gerechtigkeit als goldener Mitte, hinter der sich die große Mehrheit versammeln und so die größte Akzeptanz erreicht werden konnte.

Ein Ansatz, der Minderheiten außer Acht lasse. Eine mächtige Denkschule, die auch im modernen Europa wirkmächtig war und ist. Homosexualität war bis 1996 in Deutschland strafbar und das wurde lange von einer Mehrheit getragen und ist heute kaum noch nachvollziehbar. Gleichheit und Gerechtigkeit seien immer Spiegelbilder ihrer Zeit und unterlägen damit einem Wandel, sagt Bellardita. Trotzdem brauche es abstrakte Theoreme, die diese beiden Begriffe fassen. Und hier, so der Referent, gab es im Jahr 1971 mit dem Buch „Theorie der Gerechtigkeit“ des amerikanischen Politphilosophen John Rawls einen weiteren mächtigen Aufschlag. Zentral in diesem Buch sei ein Gedankenexperiment, bei dem Menschen ohne jede Vorstellung von ihren Fähigkeiten, ihrer Verfasstheit, ihrer sozialen Stellung, ihrer Zukunft und den Zufällen des Lebens eine möglichst gerechte Gesellschaft formen.

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Es sei hochwahrscheinlich, so schloss Rawls, dass diese Menschen sich darauf einigten, dass die Schwächsten am stärksten gestützt werden sollen. Eine anständige, sichere und stabile Gesellschaft erfordere zwingend einen gewissen sozial-ökonomischen Ausgleich. Der auskömmliche Sozialstaat hatte damit ein theoretisches Fundament.

Sicher wäre auch die Forderung nach einer Gleichbehandlung von Mann und Frau. Aber diese musste 1949 und in den Folgejahren wie vieles andere erst noch erstritten werden. Eine ganz wichtige Person in diesem Kontext, sagt Bellardita, war die Juristin Elisabeth Selbert (1896 – 1986). Die fünf Worte im Grundgesetz, Paragraf 3, Absatz 2, „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ verdanken wir ihr. Als eine der wenigen Juristinnen in Deutschland kämpfte sie ab den 1930er Jahren für die Rechte der Frauen. Anfangs vor allem als Scheidungsanwältin.

Elisabeth Selbert: Eine Kämpferin für Frauenrechte

Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es dann ans Grundsätzliche. Die Zeit, in der die Männer stets das letzte Wort hatten, egal, ob es um Geld, den Wohnort, die Erziehung und Ausbildung der Kinder oder die eigene Berufstätigkeit geht, müsse enden. Die Abstimmung zu diesem Absatz glich einem Krimi. Bei der ersten vor drei Abstimmungen unterlag sie mit ihren fünf Worten deutlich. Im Vorfeld der zweiten Abstimmung mobilisierte sie Gewerkschaften und Frauenverbände, die an die Abgeordneten tausende Briefe schrieben. Wieder unterlag sie, dieses Mal knapp. Bei der dritten und finalen Abstimmung schrieb sie persönlich einen Brief, indem sie an die Leistungen der Frauen beim Wiederaufbau nach 1945 erinnerte und dafür Respekt forderte. Diesen Brief schickte sie aber nicht an ihre Kollegen, sondern an deren Ehefrauen. Die Folge, der Absatz 2 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde einstimmig angenommen.

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Bis dieser Satz dann von den Gesetzen her vollumfänglich galt, dauerte es noch bis 1961. Obwohl nach den fünf Worten klar und unmissverständlich formuliert wurde: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Bellardita sprach von Selbert in den höchsten Tönen. Dass diese außerordentliche Frau weitgehend vergessen ist, ist für ihn eine historische Ungerechtigkeit.

Mehr Diskriminierung wegen Migration?

Gerade zentral werde um den dritten Absatz diskutiert. „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Vor allem der Teil, der sich auf die Migration bezieht, scheint unter Druck gekommen zu sein. Es scheint jedenfalls nicht fraglos zu gelten, dass Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gleich behandelt werden müssen. Die Kriminalitätsstatistik deute auf eine gewisse Ungleichbehandlung hin. Ausländer, die natürlich eher soziale Kontakte ins Ausland hätten, kämen wegen höherer Fluchtgefahr deutlich häufiger in Untersuchungshaft, als Deutsche mit dem gleichen Vorwurf.

Der Unterschied bestehe lediglich im sozialen Netz, das bei Menschen mit Migrationshintergrund logischerweise eher über Landesgrenzen hinaus gehe, als bei Deutschen. Eine Ungleichbehandlung, die nur schwer zu legitimieren sei. Das heißt aber nicht, dass jede Ungleichbehandlung unanständig sei. Es müsse nur einen nachvollziehbaren sachlichen Grund geben, wie beispielsweise den Mutterschutz, den nachvollziehbarerweise nur Frauen in Anspruch nehmen könnten.

Das Grundgesetz: Nach wie vor guter Kompromiss

Zum Schluss streifte Bellardita noch das Thema Vermögensverteilung. Natürlich könne man fragen, ob eine Verteilung, wie sie in Deutschland bestehe, für die gesellschaftlichen Prozesse nachhaltig sei. 18 Prozent der Menschen in Deutschland, so der Mann, gehörten 60 Prozent allen Vermögens in diesem Land. Und die untere Hälfte verfüge über keinerlei Vermögen. Vor dem Hintergrund, dass in Deutschland vor allem Arbeitseinkommen und nicht Vermögen besteuert würden, könnten über Jahre eklatante Ungleichheiten entstehen, die als ungerecht bezeichnet werden können. Und er erinnerte daran, dass die Vermögensteuer nicht per se gegen das Grundgesetz verstoße, sondern nur die damalige Ausgestaltung. Was sozial verträglich, gerecht und anständig ist, müsse immer wieder ausgehandelt werden. Das Grundgesetz ist für Bellardita nach wie vor ein äußerst gelungener Kompass.

Freier Autor Stefan Kern ist ein freier Mitarbeiter der Schwetzinger Zeitung.

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