Grundgesetz in Gefahr? Richter aus Schwetzingen im Interview

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird 75 Jahre alt. Wir haben mit Dr. Alessandro Bellardita gesprochen. Der Richter, Hochschuldozent, Autor und Journalist beschäftigt sich seit Jahren mit dem Grundgesetz.

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Jürgen Gruler
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Aktivisten stellen einen Aufsteller mit dem Aufdruck „Grundgesetz“ vor dem Reichstag auf. Dieses Jahr feiert die freiheitliche Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ihren 75. Geburtstag. © Symbolbild/dpa

Schwetzingen.. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird 75 Jahre alt. In einer Vortragsreihe widmet sich die Volkshochschule in den nächsten Wochen diesem Thema. Wir haben mit Dr. Alessandro Bellardita gesprochen. Der Richter, Hochschuldozent, Autor und Journalist beschäftigt sich seit Jahren mit dem Grundgesetz und er ist Referent bei den VHS-Seminaren in Schwetzingen, für die man sich noch anmelden kann.

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Gibt es Unterschiede zwischen einer Verfassung und einem Grundgesetz? Wenn ja, welche?

Dr. Alessandro Bellardita: Das Grundgesetz war schon seit seinem Inkrafttreten eine Verfassung, jedenfalls die Verfassung Westdeutschlands. Die DDR hatte ab Oktober 1949 eine eigene Verfassung. Dass dem Grundgesetz immer wieder die Qualität einer Verfassung im engeren Sinne abgesprochen wurde, hat mit seiner Entstehungsgeschichte zu tun. Carlo Schmid (SPD), der wesentlich an der Entstehung des Grundgesetzes mitgewirkt hat, hatte nämlich Zweifel, ob das Grundgesetz eine Verfassung sei, und sogar die Gründung eines neuen Staates infrage gestellt. Es gab also durchaus Stimmen, die die Meinung vertreten haben, das Grundgesetz sei deswegen keine Verfassung, weil es als bloßes Provisorium entstanden sei – mit anderen Worten: als etwas nur Vorübergehendes. Spätestens seit der Wiedervereinigung gibt es aber keine Zweifel mehr: Das Grundgesetz ist eine vollwertige Verfassung.

Wie muss man aus heutiger Sicht die Entstehung des Grundgesetzes in der Nachkriegszeit einordnen?

Bellardita: Die Entstehung des Grundgesetzes war aus Sicht der Alliierten, insbesondere aus Sicht der Franzosen und der US-Amerikaner ein wichtiger Schritt Westdeutschlands in Richtung Demokratisierung. Die Entstehung einer freiheitlichen Demokratie, das klare Bekenntnis zu rechtstaatlichen Prinzipien, war ein nicht nur symbolischer Akt, sondern wesentliche Voraussetzung für all das, was danach kam: Die Entstehung der Montanunion infolge der Pariser Verträge – und somit der Beginn der europäischen Integration sowie die Aufnahme der BRD in die NATO wären ohne die Verabschiedung des Grundgesetzes undenkbar gewesen. Bundeskanzler Konrad Adenauers Außenpolitik hat faktisch mit der Verabschiedung des Grundgesetzes begonnen.

Aber nicht nur: Das Grundgesetz war und ist eine absolute Antithese zu der Zeit zwischen 1933 und 1945. Die bedingungslose Verankerung von individuellen Grundrechten ist – auch rückblickend betrachtet – eine große Errungenschaft.

Ein viertes und letztes Mal referierte Dr. Alessandro Bellardita in der Volkshochschule über das Grundgesetz. © vhs

Welche Artikel waren den zahlreichen Vätern und wenigen Müttern des Grundgesetzes besonders wichtig?

Bellardita: Artikel 79, Absatz 3 unseres Grundgesetzes enthält die Antwort auf diese Frage: Diese Vorschrift bestimmt, dass die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes nicht abgeändert werden dürfen, nicht einmal durch eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Anders formuliert: Der Schutz der Menschenwürde, das Bekenntnis zu einem demokratischen Sozialstaat und zum Bundesstaatsprinzip sind mit Abstand die wichtigsten Grundsätze unserer Verfassung, sonst hätten die Gesetzesväter und -mütter diese Artikel nicht unter diesen besonderen Schutz gestellt.

Welche Artikel des Grundgesetzes geraten vor Gericht oft in den Fokus?

Bellardita: Das ist sehr unterschiedlich. In den letzten Jahren hat das Bundesverfassungsgericht viele Entscheidungen rund um Artikel 6 des Grundgesetzes getroffen, vor allem im Hinblick auf die Auslegung der Begriffe „Ehe“ und „Familie“ in dieser Norm. Unsere Gesellschaft verändert sich und so entwickelt sich auch die Rechtsprechung weiter. Gleichgeschlechtliche Beziehungen, Patchworkfamilien und neue Geschlechterbilder stellen auch für die Gerichte neue Herausforderungen dar. Selbst der demographische Wandel, die Digitalisierung und die kriegsfolgenbedingte Einwanderung von Geflüchteten haben in den letzten Jahren zu wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts rund um die Eigentumsgarantie, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Asylrecht und das Sozialstaatsprinzip geführt.

Dr. Alessandro Bellardita

Dr. Alessandro Bellardita ist 1981 auf Sizilien in Modica geboren. In den 1980er Jahren wanderten die Eltern nach Deutschland aus.

Sein Abitur legte er 1999 an der Europäischen Schule in Karlsruhe ab, danach studierte er Rechtswissenschaften in Mannheim.

Nach Abschluss seines Studiums arbeitete Bellardita als Anwalt. 2012 wechselte er in den Staatsdienst und war unter anderem als Staatsanwalt in der Abteilung organisierte Kriminalität tätig.

Seit 2017 ist er Dozent an der Schwetzinger Hochschule für Rechtspflege und Richter. nesy

 

Wie ist es denn um die Gleichheit der Menschen heute in der Bundesrepublik bestellt?

Bellardita: Deutschland ist ein großartiges Land. Wir sollten stolz darauf sein, dass beinahe alle junge Menschen Zugang zu Bildung haben, hierzulande studieren oder duale Ausbildungen absolvieren können. Es gibt sehr viele Bürger und Bürgerinnen, die sich beruflich oder ehrenamtlich für Menschen einsetzen, die keine guten Startbedingungen im Leben haben. Nichtdestotrotz müssen wir bestimmte Bereiche unserer Gesellschaft besonders im Blick haben: Es gibt weiterhin geschlechterspezifische Ungleichheiten, insbesondere bezüglich der Entlohnung. Und auch Menschen mit Migrationshintergrund haben es oft schwerer, weil sie Vorurteilen und Ressentiments begegnen, zum Beispiel in der Arbeitswelt. Meines Erachtens ist es aber eine Frage der Zeit: Im Vergleich zu früher, ich meine noch vor zwanzig bis dreißig Jahre, haben wir große Schritte in die richtige Richtung getan. Wir müssen weitermachen und Kräften, die die bisherigen Errungenschaften abschaffen wollen, entschieden entgegentreten.

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Ist denn die Meinungs- und die Pressefreiheit aus Ihrer Sicht noch gewährleistet? Wo liegen die Hauptangriffspunkte?

Bellardita: Grundsätzlich mache ich mir um die Meinungs- und Pressefreiheit keine großen Sorgen. Wir sollten vor allem nicht den Fehler machen, den legitimen Kampf um die Deutungshoheit, den Meinungsdiskurs – vor allem wenn es um öffentliche Debatten geht – mit dem Meinungskorridor, das heißt mit der Frage, was erlaubt und nicht erlaubt ist, zu verwechseln. Viele fühlen sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt, meinen aber damit, dass ihre frei geäußerte Meinung nicht auf Zustimmung, sondern auf heftige Reaktionen in der Öffentlichkeit oder in den sozialen Medien stößt. Diese Meinungen bleiben aber trotzdem frei. Entscheidend ist, dass ich keine staatliche Zensur oder sonstige Formen der Repression erfahre, wenn ich meine Meinung vertrete. Und von solchen Eingriffen staatlicherseits sind wir zum Glück weit entfernt.

Wie können Angriffe auf das Grundgesetz verhindert werden, wenn extreme Parteien die Macht übernehmen?

Bellardita: Ein Schwachpunkt unseres Systems ist darin zu sehen, dass man derzeit mit einer einfachen Bundestagsmehrheit das Bundesverfassungsgericht weitreichend parteipolitisch instrumentalisieren könnte. Das Grundgesetz enthält in Artikel 94 nur wenige Vorgaben zur Organisation des Bundesverfassungsgerichts: So sind die Zahl der Senate und Richter, die Amtszeit oder die erforderliche Wahlmehrheit nicht vorgegeben. Dabei handelt es sich aber um Eckpfeiler der verfassungsgerichtlichen Unabhängigkeit. Dennoch werden sie lediglich durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz, das heißt durch ein einfaches Gesetz geregelt, dessen Änderung noch nicht einmal der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Eine einfache Mehrheit im Bundestag würde also ausreichen, um diese Eckpfeiler einzureißen. Wir sollten daher das Bundesverfassungsgericht effektiver schützen und insoweit das Grundgesetz ändern.

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Was halten Sie von der jüngst erhobenen Forderung, die Weisungsbefugnis des Innenministers in Baden-Württemberg für die Staatsanwaltschaften aufzuheben?

Bellardita: Ich plädiere seit Jahren für eine unabhängige, das heißt politisch und rechtlich weisungsfreie Staatsanwaltschaft. Artikel 97 des Grundgesetzes sieht vor, dass Richter unabhängig sind. Leider gilt das nicht für Staatsanwälte. Meines Erachtens ist aber die Staatsanwaltschaft keine reine Exekutivbehörde, sondern auch eine Justizbehörde, die justizielle Entscheidungen trifft. Vor diesem Hintergrund wäre es nur im Sinne der Einhaltung des Gewaltenteilungsprinzips, die ministeriale Weisungsbefugnis abzuschaffen.

Chefredaktion Jürgen Gruler ist Chefredakteur der Schwetzinger Zeitung.

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