So voll und ganz bei sich ist sie erst am Ende. Da strahlt Julia Lezhneva übers ganze Gesicht, und ihre Stimme tut es auch, sobald sie, um ein Publikum in barocker Feierlaune etwas für den Heimweg zu beruhigen, Händels „Lascia la spina cogli la rosa“ anstimmt - die steinerweichende F-Dur-Arie der Piacere aus „Il trionfo del tempo e del disinganno“. Ein Arienhit! Es ist zwar bei weitem nicht das Schwierigste, was die russische Nachtigall aus Juschno-Sachalinsk hier singt. Aber die Reinheit des Timbres, die Ruhe der Stimme, die Beseeltheit und auch die Fähigkeit, Händels im Grunde kindlich einfache Melodie zu modellieren und spannend weiterzuführen - es ist nicht weniger als eine Extraklasse.
Quirlige Virtuosität
Überhaupt ist der Zugabenblock bei diesem Konzert der Schwetzinger Festspiele ein einziges Lezhneva-Festival. Ihre quirlige Virtuosität zeigt die Sopranistin kurz davor im Mozart-Klassiker „Voi che sapete“ aus dem „Figaro“ und der furiosen Giselda-Arie „Agitata da due venti“ von Vivaldi. Über dem dynamisch und emphatisch drangvollen Klang von Concerto Köln schwingt Lezhneva sich da schnell zu Spitzentönen empor, zeigt aber auch in der Tiefe der oberen kleinen Oktave noch genügend Volumen, um gegen das Lodern des Orchesters anzukommen. Man war bei ihr ja schon immer geneigt zu sagen: Wer Julia Lezhneva noch nicht gehört hat, weiß nicht, wozu die menschliche Stimme fähig ist - also in Sachen Koloraturen. Ihre Elastizität geht auch bei Vivaldi fast über das hinaus, was Cecilia Bartoli in ihren besten Jahren vollbrachte, ihre glasklare Höhe vibriert elektrisierend - natürlich in ihrem Tempo, das denn auch ihr Vibrato hat und bei rund MM 145 für vier Sechzehntel liegen dürfte.
Schicksal der Zwischenepoche
Diese Musik zeigt den Unterschied zwischen großer Begabung und Genie. Denn Johann Christian Bach, Ignaz Jacob Holzbauer und Georg Joseph Vogler von der Mannheimer Schule oder auch Antonio Salieri, deren Werke im Hauptprogramm erklingen, erreichen nicht die musikalische Intensität der Genies Mozart, Händel und Vivaldi - und das liegt sicherlich nicht nur daran, dass Lezhneva diese Musik sonst nicht singt und das Concerto Köln selten spielt. Zudem bleibt es die Epoche dazwischen: nicht mehr barock und noch nicht als Klassik ausgereift. Das ist das Schicksal der von Mozart so bewunderten Mannheimer Schule.
Dennoch klingt sie hier sehr gut. Bachs Sinfonien fallen in die gleiche Zeit und werden - ohne Dirigent - wendig und spritzig gespielt, alle Instrumentengruppen hören sich gegenseitig gut zu, sind extrem präsent und schalten sich, etwa die angreifenden Celli, aktiv sprechend ins Geschehen ein. Die Sinfonie g-Moll überrascht mit Unisoni aus einem Guss (Andante) und mit einem Allegro-Ende, dem ein Akkord zu fehlen scheint (natürlich nicht wirklich).
Solche Ereignisse in der Musik überraschen. Von Salieris Ouvertüre zu „La secchia rapita“ leitet das Concerto Köln mit einem Trugschluss zu Mozarts Andante für Flöte und Orchester über, das Mathias Kiesling exzellent auf der Traversflöte spielt. Höhepunkt des „Normalprogramms“ sicherlich Salieris Arie „Sulle mie tempie“, die Lezhneva mit Oboist Daniel Lanthier spielerisch und keck als kleines Duett inszeniert.
Das quasi gefüllte Auditorium des Rokokotheaters jubelt. Der Gast hat hier sicherlich einen der besten Abende seines Lebens erlebt - und für zweieinhalb Stunden die schrecklichen Weltgeschehnisse dort draußen vergessen. Nicht nur, aber auch dazu kann Kunst fähig und nützlich sein.
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