Schwetzingen. Meine Theorie: Es müssen die Schuhe sein. Irgendwer hat Metallplatten auf die Sohlen der schwarzen Boots der Künstlerin montiert – und dann die Bühne unter Strom gesetzt. Anders ist nicht erklärbar, dass Isabelle Geffroy, als Zaz Frankreichs erfolgreichste Stimme, wie ein Flummi ständig am Abheben ist, als bedeute Bodenkontakt Elektroschocks und Stillstand Schmerz. Eine weniger verschwörungstheoretische These könnte freilich sein: Es geht ihr einfach formidabel beim Auftritt im Schwetzinger Schlossgarten. Die 42-Jährige strahlt von einem Ohr zum anderen, ist ganz in ihrem Element und geht vollkommen in ihrer Show auf, die völlig zu Recht „Organique“ heißt.
Denn hier wirkt alles wie gewachsen und aus einem Guss, die Setliste ist klug komponiert und vom Spannungsbogen deutlich stimmiger als beim Auftritt bei Musik im Park drei Jahre zuvor. Dazu hat sie fünf Musiker an ihrer Seite, die jeden Stil perfekt umsetzen – von der leisen Ballade wie dem Opener „Les jours heureux“ (Die glücklichen Tage) über Gypsy-Swing à la „Comme çi, comme ça“, Chanson („Paris sera toujours Paris“) bis zur brachialen Rocknummer „Déterre“ (Grab es aus).
Ohne Berührungsängste
Das Publikum feiert die agile Sängerin mit der kratzig-rauen Stimme vom ersten Titel an. Dessen ersten Teil singt sie auf dem Weg von hinten durch die Menge zur Bühne, händeschüttelnd, ohne Berührungsängste wie schon auf ihrer Saal-Tournee, bejubelt und von unzähligen Smartphones dokumentiert.
Setliste
- Les jours heureux
- Imagine
- Si jamais
- Qué vendrá
- Ce que tu es dans ma vie
- De couleurs vives
- Et le reste
- Les passants
- Comme ci, comme ça
- Oublie Loulou (Charles Aznavour cover)
- Paris sera toujours Paris (Maurice Chevalier cover)
- Laissez-moi
- On s’en remet jamais
- La fée
- À perte de rue
- Tout là-haut
- Déterre
- Serendipia
- Si je perds
- Éblouie par la nuit
- On ira Je veux
Zugaben
- Je chant des grives
- La vie en rose
„Comment ça va?“ (Wie geht’s euch?), fragt sie und sorgt mit dem folgenden Titel „Imagine“, ebenfalls vom im Herbst 2021 erschienenen Album „Isa“, dafür, dass die Antwort nur positiv ausfallen kann. Die Band gibt der Optimismus verbreitenden Nummer einen Reggae-Touch und schnell kommt (garantiert ohne Elektroschocks) Bewegung in die Zuhörer.
Für „Isa“ hatte Zaz viel Zeit, was den Arrangements und den Texten gutgetan hat. Doch sie hat die durch Corona erzwungene Pause auch anderweitig genutzt, verrät sie. Nicht mit Deutschlernen, wie sich schnell zeigt: Ihre Ansagen macht sie noch immer auf Französisch, doch wie beim ersten Gastspiel in Schwetzingen liest Geffroy eine deutsche Passage vor. Sie habe die fünf Elemente symbolisch in der Bühnendeko vereint, um an die „Magie des Lebens“ zu erinnern, die im Alltag oft vergessen werden: „Luft, Erde, Wasser, Feuer – und uns.“
Stieftochter als „Geschenk“
Dass sie während der Bühnenabstinenz auch geheiratet und dabei „als Geschenk“ eine 13-jährige Stieftochter bekommen hat, teilt sie wieder in ihrer Muttersprache mit. Hatte sie einst über ihren Kinderwunsch im Stück „Demain c’est toi“ reflektiert, so widmet sie die berührende Ballade „Ce que tu es dans ma vie“ (Was du in meinem Leben bist) nun der Tochter und dem neuen Glücksgefühl, eine Familie zu sein.
Die Atmosphäre bleibt noch einen Moment so nachdenklich: „Wenn alle Menschen es schafften, ihren inneren Frieden zu finden, gäbe es keine Kriege mehr. Das ist eine Aufgabe für jeden Einzelnen“, sagt sie und singt „Et le reste“ allein mit ihrem Pianisten: Was hinterlassen wir unseren Kindern?
Bekanntlich setzt Zaz sich für Ökologie, Nachhaltigkeit und NGO-Projekte ein, spendet einen Teil ihrer Einnahmen, hat dem Materialismus schon mit ihren größten Hit „Je veux“ eine Absage erteilt. Die Zäsur durch die Pandemie hat sie auch zur Selbstreflexion gebracht: „Man muss viel Zeit mit sich selbst verbringen und sich auf einen inneren Weg begeben“, sagte sie im Fernsehinterview.
Der musikalische Weg an diesem Bilderbuchsommerabend im Schlossgarten führt erst mal in die Vergangenheit – die Ära der großen Chansons. „Les passants“ vom Debütalbum leitet über in den Konzertteil mit Jazz- und Swingeinfluss, bei dem die Musiker ihre Virtuosität aufblitzen lassen. Die Stimmung steigt kontinuierlich bei „Comme çi, comme ça“, Charles Aznavours „Oublie Loulou“ und Maurice Chevaliers „Paris sera toujours“, bis das Ensemble zu „Laissez-moi“ völlig außer Rand und Band gerät, Zaz das Publikum auffordert, beim „Aaah-aaah“-Chorus die Musiker zu übertönen („Lautääär!“). und vorm Gitarristen auf die Knie geht.
Mitsingen für Fortgeschrittene
In hartes Schwarz-Weiß-Licht ist die Bühne getaucht in „On s’en remet jamais“ (Wir erholen uns nie), dem Lied zum Attentat auf die Pariser Musikhalle Bataclan, in „La Fee“ gibt die Ausnahmevokalistin nach einem exzellenten Keyboardsolo den Fortgeschrittenen unter den Fans die Chance zum Nachsingen ihrer Kolotatur-Vorlagen.
Feuerzeug-Momente (wer hat schon noch sowas dabei?) bietet das federleicht schwebende „Tout la haut“, letzte Verschnaufpause, bevor es ins große Finale mit den Hits geht: „Eblouie par la nuit“, das Fernwehstück „On ira“ und zum krönenden Abschluss eine Vollgasversion von „Je veux“ reißen restlos mit. Hier ist noch mal Mitsingen aus voller Kehle gefordert: „Est-ce que vous êtes vivants?“ (Lebt ihr noch?) schreit Zaz mittendrin – die Euphorie ist auf dem Gipfel.
Zum Runterkommen gibt’s als Zugaben „Le chant des grives“ (Das Lied der Drosseln) und die finale Verneigung vor Edith Piaf mit „La vie en rose“. Zaz vereint all diese verschiedenen Stimmungen im Programm mühelos.
Es besteht Konsens, dass damit Abschiednehmen angesagt ist, es werden keine weiteren Forderungen erhoben von den 2500 Zuschauern, 2019 waren es 5000 gewesen. Agil ist die gertenschlanke Vegetarierin, die während des Konzerts immer wieder zum Handtuch greift, selbst beim überschwänglichen Winken und Kusshändchenwerfen noch. Zaz und ihre Band haben vier Stücke mehr als vor drei Jahren gespielt – was hätte noch kommen sollen? „A la prochaine“ (bis zum nächsten Mal) hätte sie vielleicht noch sagen können.
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