Speyer. Bei einer Initiative des Deutschen Städtetages und mit Unterstützung von „Engagement Global“ pflegte die Stadt Speyer ab 2017 Kontakte mit der palästinensischen Stadt Jericho im Westjordanland. Jericho, eine der ältesten Städte der Welt mit vielen bedeutenden Kulturdenkmälern, wünschte sich damals einen Erfahrungsaustausch in mehreren Verwaltungsbereichen, der allerdings nur in Ansätzen verwirklicht werden konnte. Die Palästinenserin Wiam Iriqat - sie ist Fachbereichsleiterin für Kultur und Öffentlichkeitsarbeit in der Stadtverwaltung Jericho - war in diesem Zusammenhang mehrfach in Speyer, zuletzt im Sommer 2023. Matthias Nowack sprach mit ihr über die aktuelle Situation in Jericho und im Westjordanland.
Wiam, kannst Du mir schildern, wie der Alltag in Jericho derzeit aussieht?
Wiam Iriqat: Das Alltagsleben in Jericho - wie im Rest des Westjordanlandes - ist völlig unberechenbar geworden. Jeder Tag bringt plötzliche Veränderungen, die Pläne für die Zukunft nahezu unmöglich machen. Jemand kann zur Arbeit in eine andere Stadt aufbrechen, und plötzlich sind alle Straßen gesperrt und damit der Rückweg zur eigenen Familie abgeschnitten. Razzien des israelischen Militärs, früher auf die Nacht beschränkt, finden nun auch am helllichten Tag statt. Sie gehen einher mit Festnahmen, der Verfolgung von Jugendlichen, Angst und Chaos in der Bevölkerung sowie der Behinderung von Geschäften und Schulen. Bauern sehen sich zudem wachsenden Schwierigkeiten gegenüber, ihre Felder zu bewirtschaften, begleitet von fortlaufenden Angriffen der israelischen Siedler. Unser Leben wurde zum Warten auf das Ungewisse.
Wie hat sich Dein Leben seit dem Hamas-Angriff in Israel und dem Beginn des Gaza-Krieges verändert?
Iriqat: Es ist härter und komplizierter geworden. Der Krieg in Gaza hat die kollektive Bestrafung der Palästinenser im Westjordanland mit sich gebracht: Städte sind abgeschnitten, Dörfer versiegelt, und die Militärkontrollen wurden verschärft – inzwischen gibt es 892 Checkpoints im ganzen Westjordanland. Hinzu kommt, dass Israel palästinensische Steuereinnahmen einbehalten hat, was eine schwere Finanzkrise ausgelöst hat, die auch die Gehälter öffentlicher Angestellter betrifft. Gleichzeitig gibt es weitere Landenteignungen, der Siedlungsausbau wurde intensiviert, die Siedler sind bewaffnet und werden ermutigt, Palästinenser anzugreifen.
Sind einige Dinge plötzlich schwieriger geworden, zum Beispiel Einkaufen, Reisen, Arbeit?
Iriqat: Alles ist schwieriger geworden. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Arbeitslosigkeit ist auf über 50 Prozent gestiegen. Palästinensische Arbeiter dürfen nicht mehr in Israel arbeiten. Die Fortbewegung zwischen den palästinensischen Städten ist gefährlich, es gibt lange Wartezeiten an Checkpoints, Demütigungen und das Risiko, bei jeder „verdächtigen“ Bewegung beschossen zu werden. Selbst der Schulbesuch ist nicht mehr einfach oder sicher. Das halbwegs normale Leben hat sich zum täglichen Überlebenskampf gewandelt.
Jericho wird oft als eine relativ ruhige Stadt im Westjordanland gesehen – trifft das noch zu?
Iriqat: Nein, keine Stadt im Westjordanland ist mehr sicher. Die Maßnahmen der Besatzungsmacht greifen überall. Kein Haus, keine Schule, keine Kirche, keine Moschee, kein Krankenhaus ist sicher. Vor nur wenigen Wochen wurde ein junger Mann in Jericho von der israelischen Armee einfach deshalb getötet, weil er „am falschen Ort zur falschen Zeit“ war. Einer unserer Kollegen wachte zu Hause auf, während ein Soldat mit einem Gewehr auf ihn zielte. Das ist heute die sogenannte „Stille“ von Jericho.
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Spürt man die Auswirkungen der israelischen Siedlungspolitik im täglichen Leben?
Iriqat: Absolut. Die Siedler sind gewalttätiger und organisierter geworden, sie bilden Milizen wie die sogenannten „Hilltop Youth“. Sie blockieren palästinensische Autos auf den Straßen, überfallen kleine Dörfer, brennen Häuser und Höfe nieder, stehlen Vieh, reißen Bäume aus und schießen auf Bauern. Sie errichten sogar neue Außenposten, indem sie nur eine einzelne Person oder eine Familie ansiedeln, um Land zu beanspruchen. Rund um Jericho, etwa in Gebieten wie Al-Auja, haben Siedler „beduinenartige“ Lager errichtet, mit dem Ziel, die lokalen Gemeinden zu vertreiben. Mit diesen Aktionen wird nicht nur Land gestohlen - sie zielen darauf ab, die palästinensische Präsenz vollständig auszulöschen.
Wie reagieren die Menschen in Jericho darauf?
Iriqat: Sie versuchen sich anzupassen, indem sie Reisen auf das Nötigste beschränken, Ausgaben kürzen und auf soziale Solidarität bauen. Whatsapp- und Telegram-Gruppen sind zu Überlebenswerkzeugen geworden: Man warnt sich gegenseitig vor Überfällen, Checkpoints und Siedlerangriffen und teilt Informationen in Echtzeit, um Leben zu retten. Diese Basis-Solidarität ist es, die uns erlaubt, trotz der Angst weiterzumachen.
Familien, vor allem Mütter, leben in ständiger Angst und rufen ihre Söhne und Töchter immer wieder an, nur um sicherzugehen, dass sie noch leben und in Sicherheit sind.
Wie geht es den jungen Menschen in Jericho – welche Hoffnungen und Ängste haben sie?
Iriqat: Die Jugend lebt gefangen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Sie versuchen, innerhalb der Städte ein normales Leben zu führen – zu studieren, zu arbeiten, Freunde zu treffen – doch die Angst begleitet sie ständig: Angst vor Verhaftung, vor Schikanen an Checkpoints, davor, ihre Zukunft zu verlieren. Sie wissen, dass sie das Hauptziel sind, dass ihr Leben leicht genommen werden kann – von einem Soldaten am Checkpoint, durch eine Kugel bei einem Überfall oder bei einem Angriff durch Siedler. Familien, vor allem Mütter, leben in ständiger Angst und rufen ihre Söhne und Töchter immer wieder an, nur um sicherzugehen, dass sie noch leben und in Sicherheit sind. Und dennoch halten die jungen Menschen an der Hoffnung fest, dass diese Realität nicht ewig andauern wird.
Gibt es Projekte oder Initiativen, die den Menschen Mut machen?
Iriqat: Ja. Auch wenn die externe Finanzierung für kommunale Projekte zurückgegangen ist, haben Solidaritätsinitiativen von internationalen Bewegungen und Organisationen zugenommen. Weltweite Demonstrationen, Boykotte und Kampagnen erinnern uns daran, dass wir nicht vergessen sind. Diese Aktionen pflanzen einen Samen der Hoffnung, indem sie zeigen, dass freie Menschen auf der ganzen Welt an die Gerechtigkeit der palästinensischen Sache glauben.
Gibt es etwas, was Du den Menschen in Speyer und Europa sagen möchtest?
Iriqat: Die Frage Palästinas ist kein „lokaler Konflikt“ zwischen zwei Parteien - es ist die Konfrontation zwischen einem Volk mit enormer weltweiter Unterstützung und einem marginalisierten Volk, das einfach nur um das eigene Existenzrecht kämpft. Und hier muss ich mein Bedauern gegenüber der Stadt Speyer ausdrücken. Es gab in Speyer eine Initiative, eine Partnerschaft mit Jericho aufzubauen, doch sie wurde nicht vollendet, und die Kommunikation wurde nicht aufrechterhalten – gerade in diesen schwierigen Zeiten. Solche Initiativen hätten Brücken der Solidarität und Unterstützung zwischen unseren Städten entstehen lassen können. Meine Botschaft an die Menschen in Speyer und Europa ist: Lernt Palästinas Geschichte, Kultur und Alltagsleben kennen. Fordert von Euren Regierungen, dass sie für Gerechtigkeit und Gleichheit eintreten. Schließt Euch Demonstrationen und Solidaritätsbewegungen an. Boykottiert Produkte der Besatzung und von Unternehmen, die sie unterstützen. Und vor allem: Erkennt das Recht des palästinensischen Volkes an, in Freiheit, Würde und in seinem unabhängigen Staat zu leben.
Gibt es Momente der Hoffnung, die Dir Kraft geben?
Iriqat: Ja. Trotz allem bleiben die Palästinenser standhaft auf ihrem Land. Im Laufe der Geschichte hat unser Volk Vertreibung, Schmerz und Leid erfahren - und doch sind wir immer noch hier. Tatsächlich gilt: Je mehr Gewalt ausgeübt wird, desto stärker halten wir an unserem Land und unserer Liebe zu ihm fest. Ich bin stolz auf mein Volk, das jeden Tag beweist, dass es nicht ausgelöscht werden kann.
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