Speyer. Einen flammenden Appell, die Trennung zwischen den christlichen Konfessionen zu überwinden, hat der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert formuliert. Bei seiner Fastenpredigt im Speyerer Dom sagte der Politiker, die Marschrichtung müsse lauten: „Ökumene jetzt – gemeinsam in die Zukunft.“
Domdekan Christoph Maria Kohl wollte Lammerts Ansprache am Ende als Auftrag verstanden wissen. Kohl zufolge handelt es sich bei den Fastenpredigten um einen traditionellen Brauch in neuem Format. Verantwortungsträger der Gesellschaft, die aus einer christlicher Gesinnung agierten, seien als Impulsgeber gefragt.
Die Predigt des ehemaligen Bundestagspräsidenten und heutigen Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung wurde von Domorganist Markus Eichenlaub musikalisch begleitet. Er rahmte die Ansprache mit Johann Sebastian Bachs Passacaglia und Fuge in c-Moll ein. Zwischen den drei Teilen der Predigt fügte er Bearbeitungen des Chorals „Wir glauben all an einen Gott“ des Barockkomponisten Johann Ludwig Krebs ein.
Eine solche Ansprache in jenem Dom zu halten, die er als seinen „Lieblingsdom unter den deutschen Kathedralen“ bezeichnete, sei für ihn „ebenso ehrenvoll wie anspruchsvoll“, sagte Lammert. Sich selbst porträtierte er als bekennenden Christen und katholischen Laien, der seiner Kirche gegenüber eine „kritische und loyale“ Haltung einnehme.
Mit einem Blick auf die Statistik verdeutlichte Lammert die problematische Entwicklung, in der die Kirche als Institution stehe. Zwar wachse die Zahl der Christen weltweit – mit 2,5 Milliarden Menschen sei die Christenheit die größte Glaubensgemeinschaft. Doch in Deutschland sei 2023 das erste Jahr in der Geschichte der letzten Jahrhunderte, in dem weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden christlichen Kirchen sei. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sei die deutsche Bevölkerung um bis zu drei Millionen Menschen gewachsen, aber mehr als zehn Millionen Menschen hätten in diesem Zeitraum eine der beiden Kirchen verlassen.
Auffallend an diesem Trend ist Lammert zufolge, dass der kirchliche Mitgliederschwund nicht mit einem Glaubens-, sondern eher mit einem Vertrauensverlust einhergehe. Knapp 40 Prozent der Deutschen bezeugten einen Glauben an Gott, doch 62 Prozent gaben an, ihr Vertrauen in die Institution Kirche verloren zu haben. 90 Prozent aller Kirchenmitglieder wiederum erklärten, sie könnten ihren christlichen Glauben auch außerhalb der Kirche leben. Das apostolische Glaubensbekenntnis sei immer seltener auch ein Kirchenbekenntnis.
Norbert Lammert in Speyer: Kirche selbst als Hindernis
Genau betrachtet sei es denn auch die Kirche selbst, so Lammert, die sich vielfach als „Haupthindernis des Glaubens“ erweise. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtete der Redner auch die bis heute existierende Kirchenspaltung als Resultat der Reformation vor gut 500 Jahren. Seinerzeit seien die beiden Konfessionen nicht nur aufgrund theologischer Meinungsunterschiede, sondern in erster Linie aus politischen Konflikten heraus entstanden. Wenn diese Ursachen für die Teilung der Kirche aber heute nicht mehr gälten: „Warum erhalten wir sie dann aufrecht?“ Verantwortlich für die Trennung der Christenheit in Konfessionen seien nicht etwa Glaubensdifferenzen, sondern ein Kirchen- und Amtsverständnis, das in eigenem Interesse auf Unterschieden beharrt.
„Ist das unser Ernst?“, fragte Lammert in rhetorischer Diktion: „Können wir nicht – oder wollen wir nicht?“ Vielen Christen, unter die er sich selbst rechne, bereite dieser Zustand Enttäuschung und dauerhaftes Ärgernis. Als konkretes Beispiel nannte er die Hindernisse bei der gemeinsamen Teilnahme am Abendmahl. Dabei sei es nicht die Kirche, die hierzu einlade, sondern der Herr dieser Kirche – also Gott.
Vor diesem Hintergrund sei die Aufrechterhaltung der Kirchenspaltung in Konfessionen nicht länger zu rechtfertigen, betonte Lammert. Das Selbstbehauptungsbedürfnis kirchlicher Institutionen dürfe nicht länger über der Tatsache dominieren, dass der christliche Glaube unteilbar sei. Ziel müsse es sein, diesen Glauben in einer gemeinsamen Kirche zu leben. Das majestätisch-erhabene Bassmotiv in Bachs Passacaglia, die Markus Eichenlaub nun an der Hauptorgel im Dom erklingen ließ, wirkte diesbezüglich wie eine Aussage, die keinen Widerspruch duldet.