Zwischen den Leichen liegen Plastikflaschen, Rucksäcke, Tüten. All das, womit die Menschen hier an den Flughafen gezogen waren, vorbei an Checkpoints der Taliban, und wo die Menschen zu Tausenden ausharren, warten auf Einlass durch das Tor – in der Hoffnung auf einen Platz in einem rettenden Flieger. Jetzt liegen leblose, blutverschmierte Körper im Staub der Straße vor den Mauern und Stacheldraht am Flughafen von Kabul.
Andere Bilder in den sozialen Netzwerken zeigen aus etwas Ferne vom Rollfeld aus eine Wolke aus hellem Sand vor der Mauer zum Flughafen, mutmaßlich zeigt das Foto die Detonation. Auf anderen Bildern, draußen, in den engen Straßen am Flughafen, schieben Afghanen Verletzte in Schubkarren über die Straße, ihre Kleidung befleckt mit Blut.
14 500 Evakuierte gelandet
- Mehr als 14 500 Evakuierte aus Afghanistan sind bis Donnerstag auf der Air Base Ramstein in Rheinland-Pfalz gelandet. Das teilte der weltweit größte US-Luftwaffenstützpunkt außerhalb Amerikas mit. Ramstein nahe Kaiserslautern ist seit vergangenem Freitag ein Drehkreuz für Geflüchtete aus Afghanistan.
- Etwa 55 Flugzeuge der United States Air Force seien auf der Air Base eingetroffen, berichtete ein Sprecher des Stützpunkts. Mehr als 3500 Evakuierte seien mit etwa 16 Flügen in die USA weitergereist. „Die Flüge werden voraussichtlich das ganze Wochenende über fortgesetzt.“
- Schutzsuchende wie etwa ehemalige Ortskräfte der USA in Afghanistan und ihre Familien, die aus Angst vor den Taliban ihre Heimat verlassen, kommen zunächst in Zelten und Flugzeughangars der Air Base unter. Sie werden registriert und bei Bedarf medizinisch behandelt. In der US-Militäranlage Rhine Ordnance Barracks in Kaiserslautern werden Menschen aus Afghanistan ebenfalls vorübergehend beherbergt. (dpa)
Aus nächster Nähe
Die Explosion zündete den Berichten zufolge vor dem Osttor des militärischen Teils des Flughafens, der seit rund zehn Tagen für die Rettungsflüge von etlichen Nationen genutzt wird. Am Osttor, dem „Abbey Gate“, waren zuletzt vor allem britische, aber auch amerikanische Soldaten, die dort gemeinsam mit afghanischen Sicherheitskräften den Zugang kontrollierten.
Diese Redaktion hat Kontakt zu mehreren Afghanen, die zur Zeit der Explosionen am Flughafen sind, um irgendwie noch auf einen der letzten Rettungsflüge zu gelangen. Unter ihnen Naweb, der eigentlich anders heißt. Er habe die Explosion „aus nächster Nähe“ miterlebt, erzählt er am Telefon. Naweb habe früher für die afghanische Regierung gearbeitet, will unbedingt raus aus Afghanistan. „Ich bin deshalb mit meiner Familie zum Abbey Gate gegangen. Die Amerikaner haben aber gesagt, es kommen nur Leute mit Genehmigungen oder Visa herein“, erzählt der Endzwanziger.
Sie hätten dann noch eine kurze Zeit in der Nähe des Eingangs gestanden, mindestens tausend Menschen hätten sich dort aufgehalten, schätzt er. „Plötzlich gab es eine gewaltige Explosion, vielleicht fünfzig oder sechzig Meter entfernt. Es brach Panik aus.“ Naweb habe seine drei schreienden Kinder gepackt, sei mit seiner Frau „um sein Leben gerannt“. Er sagt: „Wir haben Schüsse gehört, da waren so viele Tote und Verwundete.“
Laut Medienberichten gehen die US-Regierungsbehörden von einem Selbstmordattentat aus. Gut eine Stunde nach der ersten Meldung bestätigt das amerikanische Verteidigungsministerium, dass es „mindestens eine weitere Explosion am oder in der Nähe des Baron-Hotels“ gegeben habe.
Massive Vorwürfe
- Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, hat den politisch Verantwortlichen in der Afghanistan-Krise Versagen vorgeworfen. „Das ist ein politisches Desaster. Es ist eine Tragödie. Und ich kann dem Bundespräsidenten nur beipflichten: Es ist beschämend, was wir da sehen“, sagte Wüstner. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, habe schon vor Monaten Evakuierungspläne ausarbeiten lassen. „Aber es ist immer eine Frage der politischen Lagebewertung, der politischen Entscheidung. Und die ist sehr spät gefallen.“
- Zugleich bemängelte Wüstner die politische Kommunikation: „Da muss besser erklärt werden. Und ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Das hat auch damit zu tun, dass Vertrauen verlorengeht in Politik.“ Das sei für Streitkräfte in einer Demokratie nicht gut. Über das Thema Verantwortung müsse noch gesprochen werden. Es gebe zum Teil „enorme Wut“ bei Afghanistan-Veteranen. (dpa)
War es der „Islamische Staat“?
In den umliegenden Krankenstationen werden laut Berichten, die Augenzeugen in den sozialen Medien teilen, Dutzende Menschen behandelt. Für die Sicherheitskräfte ist kaum Arbeit am Tatort möglich, an Spurensicherung oder Ermittlungsarbeit ist angesichts der chaotischen Stunden und der drohenden Gefahr weiterer Attentate nicht zu denken.
Hauptverdächtig für den Anschlag ist nach Ansicht von Fachleuten und Regierungsbeamten der selbst ernannte „Islamische Staat“. In den vergangenen Tagen waren die Warnungen der Nachrichtendienste, vor allem des US-Geheimdienstes, offenbar immer lauter geworden. Zunächst hieß es, dass einzelne Selbstmordattentäter des IS bereits „in die afghanische Hauptstadt eingesickert“ seien. In diesen Tagen nahm die Zahl der Terroristen, die Nachrichtendienstler in Kabul identifizieren konnten, offenbar noch einmal zu.
Fachleute in der Bundesregierung nannten zuletzt den Flughafen von Kabul „ein ideales Anschlagsziel für Dschihadisten“: Tausende Menschen, dicht an dicht, nur schwer zu kontrollierende Zugänge zu den Toren, ausländische Soldaten, die als Feindbilder gelten. Und: ein Ziel mit hoher symbolischer Bedeutung. Der Ort der internationalen Luftbrücke – für Tausende Afghanen ist es der Ort in Richtung Freiheit.
Schon in der Nacht zum Donnerstag hatte die US-Botschaft die verbliebenen Amerikaner in Kabul gewarnt: „Aufgrund der Sicherheitsbedrohungen vor den Toren des Flughafens Kabul raten wir US-Bürgern, derzeit nicht zum Flughafen zu reisen und die Tore des Flughafens zu meiden.“
Beunruhigte Ministerin
Wenige Stunden vor den Explosionen in Kabul saß Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) noch vor Journalistinnen und Journalisten zu einer Pressekonferenz in Berlin. Die Ministerin zeigte sich beunruhigt. Es gebe „sehr, sehr konkrete“ Hinweise auf Anschlagspläne am Flughafen von Kabul.
Es ist Donnerstagmittag in Berlin, der letzte Tag der deutschen Luftbrücke nach Kabul läuft. Vier Flüge werden an diesem Tag noch abheben aus Kabul, in Richtung usbekische Hauptstadt Taschkent, wo die Bundeswehr die Geretteten zwischenlandet. 5000 bis 6000 Menschen werden die deutschen Streitkräfte am Ende ihrer Notoperation in Afghanistan evakuiert haben, deutlich weniger als die anvisierten bis zu 10 000.
In den vergangenen Tagen kamen immer weniger Menschen noch aus der Innenstadt Kabuls sicher zum Flughafen durch, die Taliban kontrollierten immer schärfer an den Checkpoints. Und die amerikanischen und britischen Soldaten hielten Tore zum Flughafengelände oft geschlossen – wegen der Terrorgefahr.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Meinung Das Desaster in Afghanistan war nicht die Schuld der Deutschen